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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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unterstützt hatten, und verzweifelt suchen wir nach den neuen Opfern. Missland wurde sogar zum Tag der Entwicklung eingeladen. Sie hofften wohl, er würde seine Kleine mitnehmen, die den Anlass schmücken würde.
    Natürlich erschien er nicht. Lange, Kurze, Tutsi, Hutu, Twa – ihm war das vollkommen einerlei. Er stand nur auf einer Seite, auf der Seite des guten Arsches, und er fragte sich nie, zu welcher Gruppe dieser Arsch gehörte, ob der Papa ein hohes Tier oder ein Ziegenhirte war. Zufälligerweise hatten die Langen in der Regel die besseren Ärsche, aber er hätte seinen kleinen Freund bestimmt nicht zurück in die Hose gepackt, wenn eines Tages ein passabler Hutuhintern seinen Weg gekreuzt hätte. Obwohl unwahrscheinlich war, dass sich eine Kurze mit ihm eingelassen hätte. Dafür waren sie sich zu schade. Sie waren zu stolz. Ließen eher ihre Kinder verhungern als sich von einem Umuzungu aushalten zu lassen.
    Das Schlimmste ist der Gedanke, den ich in den hundert Tagen immer wieder hatte und der mich bis heute quält, dass es eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen. Und wenn ich dann Missland sah, diesen lüsternen, nur auf die Befriedigung der eigenen Triebe bedachten Menschen, der sich von keiner Vernunft, keiner Moral leiten ließ, sondern allein seinem Schwanz folgte, der seinem Leben die Richtung vorgab, und der doch, im Gegensatz zu uns, tatsächlich das Gute tat, indem er im April vierundneunzig seine kleine Denise und sie ihre Familie außer Landes brachte, nicht, weil er ihre vier Brüder, drei Schwestern, sechzehn Cousinen und drei Onkels und Tanten mochte, ganz im Gegenteil, er verachtete sie und rettete sie bloß, weil er Denises süßen Hintern ohne die fetten Ärsche ihrer Verwandten nicht retten konnte. Denise hätte ihre Familie niemals in Kigali zurückgelassen, und wenn Missland sie weiterhin flachlegen wollte, musste er alle außer Landes bringen. Er verkaufte, was er besaß, den Wagen, das Haus, das Mobiliar. Das Geld reichte gerade für die einunddreißig Flugscheine und Reisepässe mit den notwendigen Visa, und achtundvierzig Stunden nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine saßen sie in einer Maschine, die sie sicher nach Brüssel brachte. Dieser ewig geile Bock, dieser Mensch, der sich nicht um sein Ansehen scherte, korrupt war bis auf die Knochen – er ist doch der Einzige von uns allen, der sein ganzes Vermögen opferte und Leben gerettet hat, und nicht nur eines, dreißig Seelen hat er gerettet, das heißt, neunundzwanzig Seelen und einen Arsch, um genau zu sein.
    Der kleine Paul und Marianne und die anderen Expats, sie verließen die brennende Stadt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ihre Arbeit war getan, die Menschen hatten sich ihrer Redlichkeit nicht würdig erwiesen, und was würde es nützen, ein paar außer Landes zu schaffen, wo man doch die allermeisten würde zurücklassen müssen, und unter tausend verlorenen Leben eines oder zwei oder zwanzig zu retten, das war kein Beweis für Redlichkeit, sondern nichts als Sentimentalität.
    Es war in jenen letzten Tagen des Jahres 1993, mein drittes Weihnachtsfest in Kigali stand bevor, als ich auf meinem täglichen Gang zur Hauptpost, beladen mit Paketen und Briefen, auf der Avenue de la Paix einen überfahrenen Frosch entdeckte, auf einen Zentimeter Dicke ausgewalzt. Ich erinnerte mich, wie einmal auf einer Fahrt nach Gitarama ein Bussard aufgetaucht, keine zehn Meter vor meinem Wagen auf die Straße niedergestochen war. Ich war auf die Bremse gestiegen und erwartete den Zusammenprall, doch im letzten Moment, bevor ihn die Stoßstange erwischte, erhob sich der Vogel, in den Fängen eine überfahrene Kreuzotter.
    Ich brachte die Pakete an den Schalter, und auf dem Rückweg kratzte ich mit einem Kugelschreiber die von Schmutz und Gummi schwarze Amphibie vom Asphalt, packte sie in ein Taschentuch und konnte es kaum erwarten, dem Bussard meine Beute zu präsentieren.
    Der Vogel zögerte einen Augenblick, besah sich den Frosch von allen Seiten und zerlegte ihn dann mit wenigen Schnabelhieben. Er verschlang das Aas in wenigen Sekunden, bettelte um mehr, schrie dann. Das war es also, was ich ihm besorgen musste. Noch blieb mir eine knappe halbe Stunde Tageslicht. An der Straße zur Afrikanischen Einheit fand ich einen vertrockneten Gecko, kaum größer als mein Daumen. Das war alles, zu wenig, um den Bussard zu sättigen. Der Vogel schrie die Nacht zusammen, der Frosch und der Gecko hatten seine Lebensgeister

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