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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Kreaturen beäugt, von fünfzehigen Glattechsen und von rauen Chamäleons und anderen Wurmzünglern, die auf feuerroten Götterblumen saßen und ihrem Namen, der Erdlöwe bedeutet, alle Ehre machten. Eine Stunde stiegen wir durch einen Hageniagürtel, hohe Bäume mit gezähnten Blättern, durchsetzt mit einzelnen Hypericum-Arten, durch einen betörenden Geruch von wildem Fenchel und Riesensellerie, als würde irgendwo eine riesige Schüssel Gemüsesuppe gekocht. Und als die Bäume mit ansteigender Höhe krautig wurden und Büschen wichen, drang Licht durch die Nebelschwaden. Ich habe nie wieder etwas Bunteres gesehen, obwohl Grün die einzige Farbe war, ein Grün in millionenfacher Schattierung, die Differenz zwischen 487 und 566 Nanometern, das Spektrum, in dem wir die Farbe Grün empfinden, bis auf die kleinstmögliche Nuance ausgenutzt, kein Blatt hatte denselben Ton wie ein anderes. Bis wir schließlich an die Bambuszone stießen und die Ranger uns zur Stille gemahnten. Sie selbst aber stießen nun Grunzlaute aus, laute Rülpser, um den Gorillas unser Eintreffen anzuzeigen, und bald saßen wir auf einer kleinen abschüssigen Lichtung, umringt von einem Dutzend schwarzhaariger Trolle, die nur kurz von uns Notiz nahmen, als wären auch wir bloß ein vorbeiziehender Affentrupp. Dann wandten sie sich wieder ihrer Betätigung zu, die Kleinen jagten durch die Büsche, die Weibchen saßen in Gruppen und lausten einander das Fell.
    Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis auch ich bekehrt war, ich weiß nur noch, wie ich plötzlich zwei Meter hinter einem Silberrücken stand, der auf einem kleinen Vorsprung saß und hinunter in die Ebene blickte, wo genau in jenem Moment sieben Kinder ihre Krüge fassten, um an einem der Bäche Wasser zu holen, sechs Mädchen zwischen sechs und vierzehn und ein Junge von vielleicht sechs Jahren, sie taten an jenem Tag nur, was ihre häusliche Pflicht war und was sie jeden Tag erledigten. Da drehte sich der Silberrücken müde nach mir um, und für eine winzige Sekunde trafen sich unsere Blicke, bevor ich meinen Blick abwandte, so wie die Ranger es uns eingebläut hatten, und ich wie festgefroren dastand und ein paar Grunzlaute versuchte und mir überlegte, wie ich schnell und unauffällig verschwinden konnte. Dann aber bemerkte ich, dass ich nichts weniger wollte als das, dass ich nicht aus Angst wie angewurzelt stehen geblieben war, sondern aus Liebe, aus Liebe zu dieser Kreatur, zu dieser Ruhe. In diesem Moment müssen die Kinder sich abgemeldet haben, wie sie es immer taten, wenn sie sich aus dem Rugo entfernten, sie nahmen den Pfad, der sie hinauf an die Hänge des Bisoke führte, wo sie schon jemand erwartete, jemand, der Knüppel und Macheten mitgebracht hatte, dazu Schnüre, und in diesem langen Moment, als mich die Gegenwart dieses Buddhas, dieses Bergmenschen, verzauberte und ich nicht mehr glaubte, dass es eine gute Idee der Evolution gewesen war, uns von den Bäumen herunterzuholen, und dass wir besser geblieben wären, was wir gewesen waren, wenn wir dafür diese Ruhe, Gelassenheit, diese Versenkung in den Moment hätten zurückgewinnen können und nicht in dieser Angst leben müssten, die auch diese Kinder befallen haben muss, als sie den Männern gegenüberstanden, Gestalten mit dem ewigen, lächelnden Gesicht des Bösen, das schlecht war, weil es die wahre Absicht verbarg und die Furcht der Kinder zu zerstreuen suchte. Falschheit, Betrug, Täuschung, das hatten wir gefunden, als wir uns des Fells und der groben Gesichtszüge entledigten. Unsere verfeinerte Mimik hatte nur ein Ziel, und das war die Vernebelung unserer wahren Absichten, das Gesicht, mit dem wir fortan die Welt betrachteten, betrachtete nun auch uns, es war uns feindselig, weil wir es nicht deuten konnten. Dieser Affe da aber, der wusste, was es besagte, weil er das Gesicht war, weil er war, was er sah, und nicht getrennt war von der Schöpfung, so wie die Mörder getrennt waren, wie die Kinder getrennt waren, wie jeder von uns getrennt und allein ist.
    Bald mussten wir aufbrechen, unsere halbe Stunde war vorbei, und während wir abstiegen, brachten die Männer die Kinder um, die sechs Mädchen und den kleinen Jungen, während ich beseelt war von der Begegnung mit den Weisen vom Berg, machten die Männer mit den Mädchen, was Männer immer mit Mädchen gemacht haben, und als ein paar Tage später die Nachricht die Runde machte, wie die Blauhelme die Kinder vorgefunden hatten, mit tiefen Wunden am Kopf, mit

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