Hundert Tage: Roman (German Edition)
tanzen, kleine, schamhafte Schritte, keusche Bewegungen, fast nur Andeutungen davon. Sie drehte sich zu Paul, tanzte für ihn, reichte ihm die Hand, er stand auf und tanzte mit. Als ich mir den tanzenden Paul vorstellte, musste ich beinahe lachen, aber ihm war überhaupt nicht zum Scherzen zumute. Er wisse nicht, wie er in diese Hütte gekommen sei, aber plötzlich seien sie alleine gewesen, nur der Gesang war noch da und die Dunkelheit, und er wusste, es wäre eine Sünde gewesen, sich nicht an diesem Mädchen schmutzig zu machen, ihr nicht den schmuddeligen Rock auszuziehen und sich dann von ihr führen zu lassen.
Ngwino rukundo Umpo-berane. Komm, Geliebte, küss mich mit Hingabe! Lass mich deine Schönheit genießen, die dein Gesicht verzaubert, die deinen Körper verziert und dich zu ihrem Liebling macht. Ngwino rukundo Ngwino simbi – Komm, Geliebte, komm, Schmuckstück, das ich liebe, heller als die Sonne, glänzender als Weiß und göttlicher als Gott, komm, Geliebte
. Sie sangen immer weiter, und meine Hände, mein Atem und meine Sinne folgten diesem Rhythmus, ich brauchte nichts weiter, als mich den Lauten zu überlassen, und ich weiß, ich hätte mir besser die Ohren zugehalten und wäre weggerannt, sagte er, und zum ersten Mal, seit er mit der Beichte begonnen hatte, schien er von seinen eigenen Worten nicht überzeugt zu sein, aber ich fragte mich, fuhr er dann hastig fort, warum ausgerechnet ich mir diese Wonnen versagen sollte. Jeder hat seine Frau hier, Missland hat seine Weiber, die Belgier, die jeden Abend im Chez Lando trinken bis zur Polizeistunde, alle haben ein
zweites Büro
, wie sie ihre Geliebten nennen, sogar Sie, nicht wahr, David, Sie haben doch Ihre Kleine, und die Wut stieg in mir hoch, weil er es wagte, Agathe auf eine Stufe mit diesem Mädchen zu stellen und mich zu seinem Komplizen zu machen. Schlimmer war nur, dass ich den Vize-Koordinator, diese Personifizierung der Anständigkeit, Bescheidenheit, Redlichkeit, der Selbstlosigkeit, plötzlich in seiner unterdrückten Begierde sah, einen Mann jenseits der besten Jahre, ausgehungert, ausgezehrt von einem Verlangen, das er stets unterdrückt hatte, mit seinen kindhaften Händen und den stets gepflegten Nägeln. Ich ekelte mich beim Gedanken an die Wagenladungen von Zuwendung, deren dieser Körper bedurfte, ich ekelte mich vor diesem schreienden Hunger nach Sinnlichkeit. Was ist es, fragte er mich, was habe ich getan, dass gerade ich so bestraft werde, und nur einen einzigen Moment lang begriff ich nicht, was er damit meinen könnte, bis ich die Tränen sah, die in seine geweiteten Augen stiegen. Sie hat es mir angehängt, David, diese kleine Nutte hat mir die Seuche angehängt, und es war mehr Erstaunen als Wut in seiner Stimme, bevor er einen ewigen Moment in vollkommener Regungslosigkeit verharrte, als erwarte er den letzten, tödlichen Streich, oder das Gegenteil, meine Absolution, dass ich ihn freisprechen würde von der Schuld, ihm sagen, es sei nur ein Traum gewesen. Aber ich tat weder das eine noch das andere, ich schwieg und ließ ihn unerlöst, ließ ihn zappeln, bis er sich etwas gefasst hatte und berichtete, wie er in den Tagen darauf die Sache erfolgreich verdrängt hatte, so lange, bis er krank geworden sei. Ich erinnerte mich an die Woche, in der er zum ersten Mal nicht in der Botschaft erschienen war. Es hieß, er habe eine leichte Erkältung, und das war nicht gelogen, es schien nichts Arges zu sein, aber Ines schickte ihn trotzdem zum Arzt, das hohe Fieber war beunruhigend. Aber er war nicht hingegangen, aus Angst und weil er sich einredete, sich die Seuche eingefangen zu haben. Es gibt keine Behandlung, und früher oder später werde ich sterben, umgebracht von ein paar Stunden Verzweiflung und Sorglosigkeit. Immerhin bin ich dreiundfünfzig Jahre alt und damit zehn Jahre älter als die hiesige Lebenserwartung, meinte er und lächelte dazu, als habe er mit einem hoffnungslosen Blatt doch noch ein Spiel gewonnen. Aber ich kann es Ines nicht sagen, meinte er dann, immer noch lächelnd, und mir war mit einem Mal klar, warum er gerade mich für seine Beichte ausgesucht hatte. Ich habe ihre Annäherungen in den letzten drei Monaten abgewehrt, das war nicht einfach. Ich habe alles in den Schmutz gezogen, sie war mir eine treue Gefährtin, eine wundervolle Freundin, und ich habe alles kaputt gemacht. Ich fürchte, ich bin dazu nicht in der Lage, und eines Tages werde ich sie anstecken. Ich kann sie nicht ewig zurückweisen.
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