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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Kleider in den Straßengraben gekippt, das Licht war schon fahl, und es war ein großer Haufen, und erst dann sah ich die nackten Beine und etwas, das wie ein Knochen glänzte. Die Milizen haben mich angeschrien, doch nach einigen ungemütlichen Augenblicken zogen sie die Nagelbretter weg und winkten mich vorbei.
    Jetzt werden sie mein Fehlen bemerkt haben. Marianne geht jetzt die Liste durch, ruft jeden Namen einzeln auf, nur bei meinem erhält sie keine Antwort. Sie wird Paul schicken, um nach mir zu sehen, dessen bin ich sicher. Es gibt niemanden auf der Botschaft, der bei den Milizen bekannter ist als der kleine Paul, sie wissen, er arbeitet für die Schweizer, und die Schweizer werden in Ruhe gelassen.
    Das Gartentor wird geöffnet, ich höre Schritte im Kies, jemanden, der meinen Namen ruft.
    Aber ich antworte nicht.
    Ducke mich tiefer in die Nische.
    Er wird mich nicht entdecken, selbst wenn er auf die Idee kommen sollte, hinter das Notstromaggregat zu sehen.
    David. Bist du hier?
    Ich bin hier, und hier werde ich bleiben. Bin kein Feigling. Werde nicht abhauen.
    Paul kommt näher, ich ducke mich weiter in den Schatten, ich werde zu diesem Schatten, und durch den schmalen Spalt zwischen Boden und Aggregat erkenne ich Pauls Füße, die in schweren Wanderschuhen stecken.
    Dann Shakataks Ruf, ganz nahe.
    Geh weg, Freund, geh zurück auf die Ficifolia
.
    Aber der Vogel setzt sich auf die Abdeckung des Aggregats. Seine Klauen klimpern hohl auf dem Blech. Drei Mal schreit er, und ich sehe die schneeweiße Unterseite seiner Daunen. Der Vogel wird Hunger haben und sucht seinen Meister, aber aus irgendeinem Grund dreht er sich nicht zur Wand hin, seine Schwanzfedern hängen in den Spalt hinab – wenn ich meinen Arm ausstreckte, könnte ich sie berühren.
    Paul tritt näher. Er muss jetzt genau vor der Kordel stehen, mit der man das Aggregat anwirft. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, um sich lang zu machen.
    Aber etwas hindert ihn, in die Nische zu spähen.
    Etwas. Der Vogel hindert ihn daran.
    Paul flucht, klatscht in die Hände, aber der Vogel lässt sich nicht vertreiben. Er beschützt mich.
    Dann ist er weg. Ich warte noch ein halbe Stunde. Dann schlüpfe ich aus der Nische. Es ist plötzlich still, beinahe friedlich. Ein Windstoß zieht durch den Garten, und ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.
    Haus Amsar ist dunkel und kühl, aber ich lasse die Barrikaden vor den Fenstern. Sonnenlicht dringt durch die Ritzen, Staub glitzert, und ich weiß, sie werden noch einmal zurückkommen, und dann werde ich mit ihnen gehen. Ich weiß jetzt, dass ich bleiben könnte, wenn ich es nur möchte. Das Spiel ist zu Ende.
    Hier bin ich, ihr könnt kommen!
    Aber es kommt keiner.
    Drei Uhr. Bald geht die Maschine.
    Ich setze mich in den Wagen. Fahre zur Botschaft. Das Tor ist verrammelt. Im Anschlagskasten ein Hinweis. Die Schweizer Vertretung ist bis auf weiteres geschlossen. Bitte wenden Sie sich an die Botschaft in Nairobi.
    Nairobi. Wo ist Nairobi?
    Drei Typen mit Macheten haben mich entdeckt. Sie kommen auf mich zu. Zurück in den Wagen. Zum Flughafen. Vielleicht erwische ich sie noch. Die Männer stellen sich mir in den Weg. Ich sollte sie einfach umfahren. Warum tue ich es nicht? Warum halte ich an? Warum lasse ich mit mir reden?
    Aussteigen, sagt einer.
    Ich bin Schweizer, antwortete ich.
    Aussteigen, wiederholt er.
    Ich muss zum Flughafen.
    Aussteigen. Auf der Stelle.
    Fahr einfach zu, fahr sie über den Haufen, sie haben es nicht besser verdient.
    Ich steige aus.
    Die Schlüssel, höre ich jemanden sagen.
    Einer schubst mich zur Seite. Sie steigen ein. Fahren hupend und in Schlangenlinien davon. Ich sehe, wie sie sich über die Avenue entfernen.
    Du musst zurück ins Haus Amsar. Dort bist du sicher. Es ist nicht weit. Die Avenue des Grands Lacs hinunter, fünf Querstraßen, eine Straßensperre, auf der Höhe Rue Mont Juru.
    Keine Menschenseele. Als sei ich der einzige Mensch in Kigali.
    In ein paar Minuten bin ich in Haus Amsar.
    Sie sehen mich schon von weitem. Glotzen mich an. Was ist das für ein Geräusch? Was klappert da? Sind das meine Zähne? Lasst das bleiben, aber sie hören nicht, klappern einfach weiter.
    Sie haben ein paar Steine aus einer der Grundstücksmauern gelöst und auf die Straße gelegt. Sechs Männer. Nein, keine Männer, Jungs. Sie sind angetrunken.
    Einer kommt mir entgegen.
    Halt, im Namen des Gesetzes!
    Er sagt das im Scherz, und die anderen lachen.
    Ich zücke meinen roten Pass, halte ihn

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