Hundert Tage: Roman (German Edition)
David, bitte. Er flehte jetzt, und ich fand ihn mehr als lächerlich. Ein Mann, der wegen etwas Alkohol und Sprechgesang seine Beherrschung verliert, ein Feigling, der lieber seine Frau ansteckt, als ihr zu erklären, dass er nicht der heilige, selbstlose Entwicklungshelfer war, für den sie ihn immer gehalten hatte, nicht nur seine Arbeit, das Fortkommen der Generationen, sondern hin und wieder einen weiblichen Arsch im Sinn hatte. Seine traurige Lage machte sein Verhalten nicht weniger peinlich. Warum fragte er mich? Er hatte niemanden, der ihm oder Ines näherstand, und dies erschreckte mich. Er hielt mich wahrhaftig für seinen besten Freund, und diese Tatsache fand ich schrecklicher als seine Infektion. Er hatte sonst niemanden, und ich fragte mich, wen ich in seiner Situation um einen solchen Gefallen gebeten hätte. Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Es war der kleine Paul, dieser mir vollkommen fremde Mann. Und doch war er der Mensch, der mir hier am nächsten stand. Es gab noch Missland, natürlich, aber er war Quecksilber, und ich glaube nicht, dass er mir zehn Minuten hintereinander zugehört hätte. Ich war Pauls bester Freund, und Paul war mein bester Freund. Er war kein guter Freund, das nicht, aber es gab einfach keinen besseren. Und wie kann man seinem besten Freund eine Bitte abschlagen, von der die Gesundheit seiner Frau abhängt. Vielleicht hätte ich es getan, aber ich kam nicht dazu. Drei Tage später, an einem Donnerstag, zerriss eine Explosion die abendliche Stille über Kigali. Irgendjemand hatte die Maschine des Präsidenten abgeschossen. In Kigali brach in derselben Nacht die Hölle los, die Hölle, die hundert Tage und noch ein bisschen länger dauern sollte.
Die Folgen meiner Körperlichkeit haben mich immer verwundert. Dass ich in meinen Wagen steigen muss, um von da nach dort zu gelangen, und dass ich dafür Zeit benötige. Und dass ich jetzt einfach hinters Notstromaggregat kriechen kann, um von Paul nicht entdeckt zu werden. Ich bin zwar da, aber unsichtbar, und wenn ich still bin, meinen Atem flach halte, dann reicht das, um von Paul nicht entdeckt zu werden.
Ich rieche den Diesel, es ist so dunkel, dass sich die Leuchtziffern meiner Uhr deutlich vom Zifferblatt abheben. Die Nische ist feucht, der Aasgeruch hängt noch darin, obwohl ich die Hunde weggeräumt habe, und ich fürchte, Geckos oder Asseln könnten mir Gesellschaft leisten – doch alles in allem ist das Versteck bequem, beinahe gemütlich. Ich kann den Rücken gegen die Wand lehnen und hinauf ins Blätterdach des Eukalyptus schauen. Vertreibe mir die Zeit, versuche, die Vögel zu bestimmen: der kleine, unscheinbare, der auf dem großen, ausladenden Ast hoch und nieder rennt, muss ein Mausvogel sein. Eine Dominikanerwitwe lässt sich blicken, aber der Bussard duldet keine Gäste. Ich pfeife nach ihm, bis mir einfällt, dass der Vogel mein Versteck besser nicht kennt. Aber er hat den Ruf gehört, neigt seinen Kopf, und heftet das linke Auge starr in meine Richtung. Der Bussard dreht sich, macht einen kleinen Hüpfer, löst sich von seinem Sitz, setzt sich auf einen der unteren, dünneren Äste und verschwindet aus dem schmalen Streifen zwischen Mauer und Blech, den ich überblicken kann. Ich drücke mich weiter in die Nische, und als der Vogel nach ein paar Minuten nichts von sich sehen oder hören lässt, entspanne ich mich, lege den Kopf zurück und strecke das rechte Bein aus der Nische, sodass es jemand, wenn er hinter das Aggregat schauen würde, sehen könnte.
Nach drei Stunden schmerzt der Hintern ein wenig; und ich bereue, die Wolldecke im Haus gelassen zu haben. Die Cordhose trägt auf. Ich rechne damit, mindestens vierundzwanzig Stunden ausharren zu müssen.
Mittag. Jetzt sind alle vor dem Meridien, und die zweite Gruppe versammelt sich bei der Französischen Schule, alles in allem etwa siebzig Personen, Frauen, Männer, Kinder. Ich kenne den Evakuierungsplan, schließlich habe ich ihn getippt und an meine Landsleute verschickt. Ich beneide sie nicht, fühle nichts als Verachtung für Paul, Marianne und all die anderen, die wie Ratten das sinkende Schiff verlassen.
Schüsse fallen, nicht weit entfernt, wahrscheinlich in der Nähe der Kathedrale, ploppende Salven aus französischen Sturmgewehren. Überall in der Stadt haben die Milizen Straßensperren errichtet. Ich habe Leichen gesehen, als ich von der Botschaft hierherfuhr, oben an der Avenue de l’Armée. Ich dachte zuerst, man hätte einen Sack alter
Weitere Kostenlose Bücher