Hundertundeine Nacht
Zeit?«
Abendeinladungen des Industriellen Sommer zeichneten sich durch zwei Eigenschaften aus: Man lernt die angesagtesten Nobelrestaurants in Berlin kennen, und sie müßten allein schon aufgrund des Rechnungsbetrages tatsächlich als Bestechungsversuch gemeldet werden.
»Überschätzen Sie nicht meinen Einfluß im Vital-Verbund, Herr Sommer? Der Auftrag für die OPs stammt noch aus einer anderen Zeit. Jetzt bin ich nur noch ein ganz normaler Oberarzt.« Ich deutete auf die Gruppe am Büffet. »Sie sollten sich eher mit Herrn Hirt und seinen Leuten aus der Geschäftsführung verabreden.«
Sommer lachte.
»Das habe ich schon, Dr. Hoffmann, keine Sorge. Aber unterschätzen Sie nicht Ihren Ruf bei Vital!«
Tatsächlich? Wußte Sommer mehr als ich? Verfügte er über Informationen zur Chefarztbesetzung? Ich nahm die Einladung an, in der Hoffnung, die vorgeschaltete Konferenz mit Dr. Zentis würde mir nicht den Appetit verderben.
Eine Stunde später im Besprechungsraum 5, 2. Stock der Gesundheitsverwaltung, gab es keinen Sekt, trotzdem traf ich Zentis bei ausgezeichneter Laune an.
»Das Ziel unserer Übung, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Überblick über den Ist-Stand und eventuelle Lücken in der Notfall- und Katastrophenplanung für Berlin zu erlangen, ist mehr als erreicht worden, und ich habe Ihnen allen sehr zu danken.«
Freundlicher Applaus der Kollegen, wohl als Dank für den Dank. Zur Antwort klatschte Zentis uns zu, als Dank fürs Mitmachen an seiner Übung oder als Dank für den Dank für den Dank.
Jetzt allerdings gehe die Arbeit erst richtig los, fuhr Dr. Zentis fort, die Verbesserung und Optimierung der Vorsorge für ähnliche Fälle, aber nicht heute. Heute wollten wir nur den Bericht verabschieden, dessen vorläufige Form wir ja sicher gelesen hätten. Niemand rief »nein!«, also war seine vorläufige Form bereits seine endgültige. In wenigen Worten faßte Zentis den Ablauf der Übung zusammen. Kein Wort über meine »Fahnenflucht«, wahrscheinlich im Austausch dafür, daß ich nicht den Zusammenbruch jeglicher Infrastruktur durch Zentis' Total-Quarantäne zur Sprache brachte.
Erstaunlich jedoch war, daß Zentis, sonst stets bereit, eigene Erfolge bekanntzumachen und verdientes oder unverdientes Lob einzustecken, mit keinem Wort das massiv bessere Abschneiden »seiner« Bezirke und »seiner« Klinik erwähnte. Und das trotz der Anwesenheit von Staatssekretär Müller.
»Wir haben für jeden von Ihnen einen Ordner mit Unterlagen für die weitere Arbeit zusammengestellt, vorwiegend nach der Fragestellung, mit welcher Art von Terroranschlägen zu rechnen ist. Sie werden Informationen von entsprechenden Abteilungen der Bundeswehr finden, aber auch Sachen aus dem Internet über mögliche Terrorszenarien, entsprechende Drohungen und Vorbereitungen. Ziemlich komplett, denke ich, bis runter zu Anleitungen, wie Sie Ihre eigene bakteriologische oder chemische Bombe zu Hause basteln können.«
Jeder der Anwesenden nahm sich brav einen Ordner, höchst einverstanden damit, daß Zentis' »vorläufiger Bericht« nicht weiter diskutiert wurde. Und somit unbemerkt blieb, daß ihn bisher kaum jemand gelesen hatte.
»Wenn sonst nichts mehr anliegt heute ...«
Zentis wollte zum Ende kommen.
Plötzlich wurde mir klar, warum er die Super-Statistik für seinen Verantwortungsbereich nicht angesprochen hatte und daß die Total-Quarantäne vielleicht gar kein Fehler im Übereifer gewesen war.
»Nur eine Frage noch, Kollege Zentis. In bestimmten Bezirken und an bestimmten Kliniken gab es deutlich weniger Erkrankungsfälle und signifikant weniger Tote. Haben Sie eine Erklärung?«
»Richtig! In der Art und nach dem Ergebnis, wie mit der angenommenen Katastrophe umgegangen wurde, bestehen tatsächlich bemerkenswerte Unterschiede«, ein Blick zu Staatssekretär Müller, der wissend zurücklächelte, »deren Gründe noch im einzelnen untersucht werden müssen. Vielleicht beim nächsten Treffen mehr dazu.«
Ich Blödmann! Natürlich würde Zentis sich nicht hier feiern lassen. Von wem schon? Von uns popeligen Ärzten? Uninteressant und eventuell sogar riskant. Am Ende würden die Kollegen doch noch seinen Bericht lesen und ihm auf die Schliche kommen. Nein, wir sollten seinen Bericht nur absegnen. Und Staatssekretär Müller hatte er offensichtlich längst auf seine bei der Übung bewiesene medizinische Überlegenheit hingewiesen. Die Ziele von Dr. Zentis gingen über den Herrn
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