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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Abermann
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hatte eine Uhr zu schlagen begonnen. Von nun an lief die Zeit. Die Zukunft war von der Gegenwart abgelöst worden, und ich sah keine Tiefe mehr auf dem Bildschirm. Mein Blick prallte von den Bildern ab. Er erstarb auf dem leicht gewölbten Glas der Bildröhre. Auf dem Schirm standen Moderatoren in glitzernden Kulissen, Filmhelden, kampfbereit, ein Degenduell auf einer Lichtung, perlende Wassertropfen, Fettaugen in der Großstadtsuppe, Rauschen im Äther, Werbung für ein Leben, Werbung für die Fortsetzung. Eine Wiederholung, eine Wiederholung, eine Wiederholung. Die Funkwellen stießen mich nicht mehr an. Ich schlief stattdessen unter ihrem Ansturm ein.

    Was ich träume, in diesem Schlaf: Ich schalte den Fernseher aus, doch er läuft weiter. Auf dem Bildschirm gehe ich durch ein verlassenes Haus. An den Wänden hängen Spinnweben wie Girlanden, der Schimmel zieht sich lachend über die Kanten des Raumes, und Wasserflecken überziehen die Decke wie Blumen. Musik ist in allen Zimmern. Aus allen Räumen dröhnt die festliche Stimmung. Das Wasser rinnt langsam die Wände hinab, tritt auf den Flur, spült über den Boden und brandet gegen meine Sohlen. Mit jedem Schritt steigt das Wasser höher, ich wate durch die Räume. Durch das Plätschern gelange ich in das Wohnzimmer – erst jetzt erinnere ich mich: Es ist meine Geburtstagsfeier, meine gesamte Familie ist hier. Doch sie liegen nur leblos wie Puppen im Raum herum, drapiert auf abgewetzten Sofas und wurmstichigen Holztischen. Ihre Münder lachen mir zu, ihre Haut ist leblos und wächsern. Die Gesichter meiner Familie sind geschminkt, grinsende Clownmasken sitzen ihnen auf den Köpfen. Sie regen sich nicht, hin und wieder weht eine Haarsträhne im Takt der Musik wie ein klopfender Fuß, das Wasser steigt weiter, erreicht den Tisch, auf dem ein Geburtstagskuchen langsam in einem trüben Brackwasser versinkt. Als das Wasser die Kerzen erreicht, zischt jede Kerze einzeln, bevor das Licht im Raum erlischt.
    Und über all dem schwebt die Musik wie eine Absolution. Im Dunkel hallen die Lieder wider. Die ganze Welt singt hier mit einer Stimme. (Nur für mich.)

    Als ich wieder aufwachte, war es im Zimmer dämmrig geworden. Ich schaltete den Fernseher aus, rutschte auf der Couch hin und her, schaltete den Fernseher wieder an. Mein Blick wanderte die Kanten des Raums hinauf. Über das Eck gelangte ich auf eine neue Achse, wanderte sie ab. Ich schaltete durch Kanäle, ohne auf das Bild zu sehen. Ich ließ den Blick über die Ecken des Raums hinauf- und wieder zurückgleiten wie einen Finger, der über eine Tischkante streicht.
    Auf dem Fernsehschirm ritt ein Junge mit dicker Brille auf einer Ameise, vorbei an riesigen Grashalmen. Die Ameise rannte stur geradeaus, einem Krümel nach, den der Junge ihr mit einer Angel vor die Nase hielt. Ich schaltete den Fernseher aus, die Wand hinter dem Schirm waberte.
    Aus dem Wohnzimmer waren Geräusche zu hören. Ich fragte mich, wie spät es eigentlich war. Ich ließ die Fernbedienung in meiner Hand rotieren. Sie kam mir vor wie ein überflüssiges Körperteil, mit dem ich nicht umgehen konnte. Ich hatte einmal von einem Kind gelesen, das mit einem zusätzlichen Arm geboren worden war. Der Arm war sofort nach der Geburt amputiert worden. Ich fragte mich, ob es den Arm bewegen konnte, ob es damit hätte leben können. Vielleicht sogar besser.
    Ich schaltete den Fernseher an und sofort wieder aus.
    Ich öffnete leise die Tür meines Zimmers. Ein Muskel in meinem Arm zuckte unkontrolliert. Ich ging leise nach unten. Am Wohnzimmer vorbei. In einem Sessel, mitten im Raum, saß mein Vater. Sein Kopf war nach hinten gefallen. Er schnarchte leise. Der halb offene Mund ließ ihn aussehen, als schrie er, sehr, sehr leise. An der Wand hing direkt über seinem Kopf ein Bild, fast wie eine Beschriftung im Museum. Ein Schwarzweißfoto von Arbeitern, die auf einem Stahlträger saßen. Mein Blick streifte über meinen Vater, als würde ich ein Ausstellungsstück in einer Vitrine betrachten, ein Artefakt aus einer anderen Zeit.
    Ich setzte meinen Weg fort, die Räume setzten sich in die Ewigkeit fort, ich atmete ein, als hätte ich seit Minuten nur ausgeatmet. Die Luft füllte meine Lungen und fuhr mir schlagartig in den Kopf. Der Raum erstickte mich, drückte sich mir wie ein Kissen ins Gesicht. Ich fühlte eine Unruhe in mir, etwas wütete in mir und zwang mich, in Bewegung zu bleiben.
    Ich fuhr in die Ärmel meiner Jacke, verließ hastig das Haus und

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