Hundsköpfe - Roman
schrie Segelohr und machte eine obszöne Bewegung. »He, Niller. Fleckenfratze! Du häßlicher Idiot!«
»Was zum Teufel!« stieß Niller aus, ließ den Ball Ball sein und rannte hinüber zu diesem Rotzlümmel. Doch als er vor dem Neuen aus Stavanger stand, trat ein fünfzehnjähriger Bursche mit Flaum auf der Oberlippe aus der Dunkelheit des Hinterhofes, griff sich den erschrockenen Niller und zog ihn mit sich ins Dunkle, wo er ihm die Arme auf dem Rücken festhielt und seinem kleinen Vetter zurief: »Los jetzt, tritt!«
Segelohr zögerte einen Moment, trat Niller dann in die Leiste, und ein leiser, dumpfer Laut kam von den Lippen des gleichaltrigen Jungen.
»Nein, verflucht«, sagte Appelkopp, »ziel auf die Eier, nicht dieser Kleinmädchenscheiß!«
Noch einmal nahm Segelohr Maß, und diesmal traf er glockenrein, mit anderen Worten, das Glockenspiel erklang, die Lippen des Burschen wurden schlagartig blutleer, und er sank auf der Erde zusammen, wo Appelkopp ihm, um den Ernst der Angelegenheit noch zu unterstreichen, einen Tritt in den Hintern gab und hinzufügte: »Keine weiteren Probleme mit dir, oder?«
»Nein, nein«, stöhnte Niller, »nie wieder.«
Auf der Straße merkte Segelohr, wie er zitterte, und er wunderte sich, daß sein Vetter so unbekümmert pfeifen konnte. »Na«, sagte Appelkopp, als sie wieder auf dem Fahrrad saßen, »wer ist der nächste auf der Liste?«
»Au! Au!« hörte man es in den Hinterhöfen von Bergen. »Nein! Nein!« schallte es aus dunklen Gassen, und nachdem er nacheinander jeden Quälgeist des Stadtteils bearbeitet und sich auf diese Weise eine durchaus ausgefeilte Technik antrainierte, hatte sich Segelohr unter den Jungen des Viertels einen gewissen Respekt verschafft.
»He, da geht der Nußknacker«, flüsterten sie, und obwohl es Segelohr nicht gelang, daß die Burschen ihn nun gar nicht mehr ärgerten, erlebte er doch zum ersten Mal in seinem Leben das Wunder, in Ruhe gelassen zu werden – was nicht zuletzt auch an Appelkopp lag, von dem es hieß, daß er vor nicht allzu langer Zeit seinem Großvater einen Kinnhaken verpaßt hatte, als der alte Mann den Gürtel aus dem Schrank holen wollte.
Denn Vater Niels, der nicht mehr versucht hatte, Schläge mit dem Gürtel auszuteilen, seit ihn der junge Askild nach der Sache mit dem übermütigen Mädchen um den Eßtisch gejagt hatte, war ein wenig senil geworden, und es kam vor, daß Askild und Mutter Randi sich ihm morgens in den Weg stellen mußten, wenn er seinen Schnurrbart mit Vaseline in Form gebracht, sich mit Old Spice bespritzt und das Hemd aufgeknöpft hatte, damit alle sein weißes Brusthaar sehen konnten, und nun die Wohnung verlassen wollte, um auf der Amanda anzumustern. Ein paarmal gelang es ihnen nicht, ihn aufzuhalten, dann trieb er sich an den Hafenkais herum und bot zufälligen Skippern seine Arbeitskraft an, bis eine freundliche Seele sich des Mannes erbarmte, ihn auf ein Glas Bier einlud und hinterher nach Hause in die Wohnung auf Skansen brachte, wo er strammstehen mußte und von der übergewichtigen Randi einen Anschiß bekam.
Während Segelohr mit seinem Vetter in Bergen herumfuhr und die Glockenspiele klingen ließ, war Bjørk mit ihrer Tochter auf dem Weg zum Arzt. Mit zweieinhalb Jahren hatte sie noch immer nicht laufen gelernt und sprach kein einziges Wort. »Das kommt schon noch«, pflegte Askild zu sagen, aber Bjørk hatte inzwischen ihre Zweifel, und eines Tages schlich sie sich unbemerkt mit Anne Katrine aus der Wohnung und klopfte an die Tür bei – ja, bei niemand Geringerem als Thor, dem Arzt, der neben seinen Studien der Neurochirurgie eine kleine Praxis eröffnet hatte.
Umgeben von allerlei medizinischen Instrumentarien und inspiriert von den glückverheißenden Illusionen eines halben Hunderts Arztromane, setzte sie sich in Thors Praxis und legte los. Sie erzählte nicht nur von ihren Sorgen um die Tochter, sondern auch von ihren Problemen mit dem alkoholisierten Ehemann. Sie deutete an, daß ihre sexuellen Beziehungen die reine Qual und die ganze Ehe einfach ein Fehler waren. Dem Arzt Thor verschlug diese Suada schlechterdings die Sprache. Er hatte sich Bjørk eigentlich immer als einen glücklichen Menschen vorgestellt; sie hatte eine faire Wahl gehabt, und sie hatte den düsteren Muselmann gewählt, der plötzlich zur Tür hereingetrottet gekommen war. Eine schwindelnde Leichtigkeit breitete sich in seinem Körper aus, und als er die Kontrolle wiedergewonnen hatte, beugte er sich
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