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Hundsköpfe - Roman

Hundsköpfe - Roman

Titel: Hundsköpfe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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über den Schreibtisch und nahm ihre Hand. Allerdings war Thor immer ein pflichtbewußter Mann gewesen, und während er das kleine Mädchen untersuchte, die Reflexe prüfte, es mit verschiedenen Intelligenztests versuchte und Bjørk über das Kind ausfragte, wurde ihm nach und nach klar, daß es ganz einfach geschmacklos war, in einer Situation wie dieser an Vergnügen zu denken. Dreimal untersuchte er Anne Katrine, um wirklich ganz sicher zu sein. Dann atmete er tief durch, und als er seine Diagnose stellte, sprang ein Fenster auf, und ein kalter Wind blies durch das Behandlungszimmer ins Herz meiner Großmutter und setzte sich dort bis zu ihrem Todestag als Eissplitter fest.
    Vorbei war es mit der verzauberten Stimmung, und auf dem Heimweg durch die Straßen Bergens begriff Bjørk, daß sie sich von nun an mehr um ihren Sohn zu kümmern hatte. Ein verlorenes Kind in der Familie war mehr als genug.
    »Wer hat das gesagt?« knurrte Askild, als Bjørk ihm am gleichen Abend die Diagnose erzählte.
    »Thor, der Arzt.«
    »Dieser Höschenkünstler!« fauchte Askild.
    »Er ist der kompetenteste Arzt der Stadt, Askild. Herrgott, mußt du denn immer wieder davon anfangen?« Doch die Antwort schien Askild nicht zufriedenzustellen, er ging zum Laufställchen und hob seine Tochter heraus: »Hirnschaden? Idiotin? Retardiert? Verdammt noch mal, ist sie nicht!« brüllte er.
    »He! Was ist los?« fragte Segelohr, der in diesem Moment ins Wohnzimmer kam.
    »Guck dir deine Schwester an«, erwiderte Askild, »sieht sie aus wie eine Idiotin?«
    »Öh?« meinte Segelohr verwirrt.
    »Genau! Das meine ich auch«, rief Askild, »aber der sogenannte Arzt deiner Mutter möchte sie in eine Irrenanstalt sperren.«
    »Aber wieso?«
    »Tja, das wissen die Götter«, brummte er, während Mutter Randi »Heilige Jungfrau« murmelte, und Vater Niels in seinem Schaukelstuhl abwesend in die Luft starrte.
    Damit war das Thema ausdiskutiert, und sogar Mutter Randi war den ganzen Abend verblüffend still, genau wie Bjørk, die die Augen geschlossen hatte und neben Vater Niels auf dem Sofa eingeschlafen war, nachdem sie größten Teil des Nachmittags über gefröstelt hatte. Und während Bjørk von einem kalten Eissplitter träumte, der sich in ihr Herz gebohrt hatte, während Askild auf der Hintertreppe rumorte und eines seiner mißglücktesten Bilder malte – es bekam später den Titel Der Arzt und das Skalpell  –, ging Segelohr zum Laufstall und guckte sich seine Schwester an, die an einem Holzklötzchen lutschte. Und er, der sich trotzig geweigert hatte, ihr in Stavanger einen Begrüßungskuß zu geben, sprang plötzlich in den Laufstall und fing an, mit dem stummen Mädchen zu spielen, das entzückt vor sich hin sabberte. Den gesamten Abend über saß er da und spielte mit seiner Schwester, bis Bjørk aus ihrem Traum erwachte, die Kinder ins Bett schickte und sich unter einer weiteren Decke verschanzte, bevor sie wieder in ihre Träume entschwebte …
    In den kommenden dreißig Jahren entwickelte Bjørk eine Angst vor offenen Fenstern, eine manische Besessenheit gegenüber Zugluft, eine Vorliebe für wollene Pullover und eine nahezu pathologische Leidenschaft für Halstücher. »Denk an die Jacke und dein Halstuch, paß auf, daß du dich nicht verkühlst«, ermahnte sie der Reihe nach sämtliche Familienangehörigen, wenn sie aus dem Haus gingen. Kalt am Arsch, hätte Raffzahn geraunt. Ich habe mich entschlossen, die Sache etwas anders zu sehen, nämlich als eine Angst vor dieser Art Kälte, die sie in sich selbst gespürt hatte, als der Arzt Thor 1954 seine Diagnose stellte. Am darauffolgenden Tag hätte kein Familienmitglied eine Veränderung ihres Umganges mit der Tochter feststellen können, der einzig offensichtliche Unterschied zum Vortag war, daß das Lied über eine strahlende Zukunft ein für allemal aus dem Repertoire gestrichen schien, wenn ein Gutenachtlied zu singen war; mit den Augen der dicken Tante sehe ich dennoch eine gewisse Distanz, mit der ich mich hier aber nicht länger beschäftigen will. Andererseits waren die Veränderungen in Askilds Gefühlsleben für jedermann deutlich zu sehen. Bereits am darauffolgenden Abend versuchte er mit aller Macht, seine Tochter zum Gehen zu bewegen, und in den folgenden Wochen probierte er mit zunehmender Verbissenheit, ihr beizubringen, »Papa« zu sagen. Zunächst mit Geheul als einzigem Resultat, doch als Anne Katrine im Alter von sechs Jahren wirklich zu laufen begann und als

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