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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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der Verfasser hineingeschrieben hatte.

    Die bin ich los, dachte Sowtschick, obwohl er sie ja noch gar nicht gehabt hatte. Die Gegenläufigkeit der Gene, eine bestimmte Art, das Haar nach hinten zu werfen und gleichzeitig gen Himmel zu blicken mit den etwas hervorquellenden Augen… Den Rest gab ihm das, was sie ihre «Lyrik» nannte, die erdfarbene Ewigkeit also und wie sie zu Papier gebracht wurde: mit heißer Feder, unbedingt in der Laube, und unbedingt so, daß man es sehen mußte: Hier wird erdfarbene Ewigkeit produziert, die keine Spur von all seinen Anregungen enthielt, von windschiefen Schuppen also oder von Zäunen. «Die Zäune der erdfarbenen Ewigkeit …» Eine solche Zeile wurde von dem Mädchen nicht zu Papier gebracht. Nein, unter dem All machte sie’s nicht. Es hatte Momente gegeben, in denen Sowtschick schwankte, gemeinsam in einem Sportwagen dahinrasen, am Genfer See entlang, Brüderlein und Schwesterlein, ein Hotel des Fin de siècle, und die Leute raten lassen, was es mit ihnen auf sich hat.

    Die bin ich los, dachte er, und er atmete auf.

    Auch bei Adelheid war Sowtschick schon gewesen: das Unternehmen «Cerberus». Im Gegensatz zu Gabi war sie für extreme Ordnung: das Nachtwachenzimmer der Assistenzärzte. Auf dem Tisch stand eine Blumenvase mit einer einzigen weißen Chrysantheme drin, und auf dem Nachtschrank lag ein Buch aus der Schwarzen Reihe: «Physiologische Chemie». Jeden Tag dem Physikum einen Schritt näher, Schritt für Schritt, Muskeln, Drüsen, Sekrete. Neben dem Lehrbuch stand ordnungsgemäß eine Tüte mit Gummiteddys: grün, rot und wäßrig.

    Sowtschick blätterte das Chemiebuch durch, die Formeln und Tabellen regten ihn an: Man müßte für Kriminalromane ein System von Formeln erfinden! dachte er. «Mörder plus Leiche gleich Verbrechen», irgendwie so. «Am bekanntesten wurde Alexander Sowtschick durch seine genialen Kriminalromanformeln», so würde es später heißen in einer mit Tabellen und Gleichungen angereicherten Biographie, und alle Welt würde sich wundern, daß sie nicht selbst auf diese Idee gekommen ist. «Außerdem hat der Autor noch eine Reihe von Romanen geschrieben, denen eine gewisse Breitenwirkung beschieden war.»

    Sowtschick blätterte in dem Buch, da rutschte ein Foto heraus: Es war das Foto, das ihn selbst an der Hand seiner Mutter zeigte, lange vor dem Krieg. Das hatte dieses Mädchen also gemopst, neulich. Warum? Hatte er mütterliche Instinkte in der Zwanzigjährigen geweckt, er, der Sechziger? Sah sie sich am Ende an seinem Krankenlager stehen, ganz in Weiß, das Stethoskop in der Tasche? Und er, bärtig und mit Wundmalen an Händen und Füßen, ausgestreckt, die großen Zehen gen Himmel.

    Sowtschick legte sich auf Adelheids Bett: «Zur Erinnerung an unvergeßliche Stunden…» Siehe! Da weinen die Götter, daß das Schöne vergeht. Sowtschick konnte es nicht lassen, er faltete Adelheids nach Nivea riechenden Pyjama auseinander und legte ihn sich aufs Gesicht. Auf dem Höhepunkt der Lustbarkeit hatte sie «o Gott …» gesagt. Er sah sie den Kopf nach links und rechts werfen, und er hörte sie «o Gott!» rufen. Und gleichzeitig sah er sie in reinlichem, straffgezogenem Weiß in einer Ärztekavalkade den spiegelblanken Klinikgang hinuntergehen, und sich sah er liegen mit ledriger Haut, ausgestreckt in einer Totenkammer.

    Mit dem Nasenspiegel wird sie der Menschheit zu Leibe rücken, dachte Sowtschick. Wie ich es tue.

    Out! Out!
Aus und vorbei …

    In das Zimmer der Nichten warf er nur einen kurzen Blick. Geruch nach Zoo und auf dem Tisch der «Denise»-Roman, Band 92: «Du und ich und tausend Sterne». Daneben ein aufgeschlagenes Tagebuch. Sowtschick las von sich, daß er jugendlich wirke und «eigentlich doch ganz nett» sei. Daneben lag ein Portemonnaie, prallvoll mit Kassenbons, Zuckerstück-Umhüllungen und Kinokarten. In der Ecke stand ein Notenständer mit Geige dran. «Laura Bentwitz» stand auf den Noten, das «Laura» war durchgestrichen und durch «Rebecca» ersetzt.

    Was wissen wir von der Jugend? Wir wissen nichts, dachte Sowtschick, aber sie weiß auch nichts von uns.

    Er war sich über seine Gefühle nicht im klaren, vielleicht, weil die beiden Mädchen bei aller Verschiedenheit ihre eigene Art noch nicht endgültig ausgebildet hatten?

    Die mollige Petra, bettheiße Erotik ausstrahlend trotz Pausbäckigkeit und struvem Haar, Pippi Langstrumpf in älter, die Schenkel voll pulsender Sinnlichkeit, eher bedrohlich in ihrer

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