Hundstage
Unersättlichkeit.
Rebecca sah er als Rächerin, ein Militärkäppi auf dem Kopf. Vielleicht war Rebecca die Reizvollste? Aber dann doch wieder nicht, ihre zitternde Indifferenz machte ihm angst.
Sowtschick stieg in die Fluchtburg hinunter. Die inzwischen angebrachte Zellentür mußte er aufschließen, massiv Eiche. Sehr originell. Sich wie Kolumbus in seinen Ketten begraben lassen, weil einem Unrecht geschehen ist… Von innen schob er die gewaltigen Riegel vor, und dann sah er in den großen Spiegel: Was weiß man denn von sich selbst?
Die Hoffnung, daß er sich selbst besser kennenlernen würde beim Schreiben des Winterromans, hatte getrogen. Er hatte Fingerling kennengelernt, nicht sich. Ausgegangen war er von gleicher Körpergröße und von gleichen Vorlieben. Nun war jener fünf Zentimeter kleiner und schwarzhaarig statt blond, trug lange Unterhosen und hatte Schinn auf dem Jackett. Er war nicht, wie Sowtschick hätte gern sein mögen, kraftvoll den Felsblock stemmend, oder vom Adler besucht, der an der Leber frißt, nein, er war introvertiert-nervös, eher zerstreut, ja irgendwie auch ein bißchen dumm. Zudem schien die Existenz dieses Mannes um hundert Jahre zurückverschoben, anachronistisch, nicht zu beziehen auf die brennenden Fragen heutiger Zeit. – Ohne Nabelschnur verlor er sich in der Menge. «Er ist mir verlorengegangen.» Ein unausgelüfteter Anzug, eine altmodische Taschenuhr, ein flatternder Havelock – das stand nun zu Buch… und, ja, und allerdings: jene Frau auf dem Fels am Meer, Annemarie, mit ihren vier Zeilen «Frost» … Aber, und das war die andere Seite, und die ward zur selben Zeit sichtbar: das Meer sandte in den gelblich schäumenden Wogen Plastikabfall ans Land.
Sowtschick zog sich um, er wählte eine nicht zu helle Hose und ein dunkleres Flanellhemd, dazu legte er sich einen weißen Pullover auf den Rücken, dessen Ärmel er als Schal um den Hals schlang. (Marianne hatte dafür achthundert Mark bezahlt.) Sandalen.
Um halb neun wurde er endlich zum Abendbrot auf die Terrasse gebeten. Es herrschten antike Impressionen vor: Die Mädchen trugen lange Gewänder aus verschiedenfarbigen Bettlaken, mit ein paar Stichen zusammengeheftet: Adelheid und Gabriele ganz in Weiß, sie hatten sich Zöpfe geflochten. Die Nichten trugen blaßlila Gewänder und altdeutsche Schnecken auf jedem Ohr. Auch die Pferdemädchen waren gekommen, Sabine und Rita, die beiden Raubritter, in lichtem Grün, mit Kranz um den Kopf. Sie bekamen ein Küßchen auf ebendiesen Kopf. Es war eine überbordende Tafel angerichtet, Käsestücke mit blauen Weintrauben verziert, die verschiedensten Melonen, gelbe und grüne, mit und ohne Etikett. Ein Grill, auf dem Lausitzer Würstchen verkohlten. Links und rechts standen wie Leuchtschalen zwei Bowlen, eine grün und eine rot, mit Inhalt für je fünfundzwanzig Personen. In den Bäumen hingen Lampions, neue Lampions, obwohl im Keller noch von Silvester her eine große Kiste voll stand. Dem Dichter wurde die Krawatte festgezogen, und auf das Haupt bekam er einen Kranz von Malven. Er griff sich einen Apfel und setzte sich auf seinen Platz, der ebenfalls mit Malven geschmückt war: den Blick in den illuminierten Garten, aus dem die beiden Schafe unverwandt herüberblickten. Zu seinen Füßen die Hunde, sauber gebürstet und mit Schleifchen versehen: Eine Lyra fehlte ihm irgendwie, er sah sich danach um.
Schade, daß keiner der bewährten Freunde da war. Von Dornhagen hätte auf seiner Okarina blasen können, und Hoenisch hätte Handstand gemacht. Carola wäre vermutlich mit Hut erschienen, er hätte ihr die Hand geküßt. An Dornhagen dachte Alexander, an Hoenisch und an Carola. An Marianne dachte er nicht. Als Sowtschick eben, den Apfel in den Händen drehend, in Ruhe die Mädchen betrachten wollte, eines neben dem andern, wurde «Halt!» gerufen. Eben noch mal alle aufstehen, ein Foto machen, das Vergängliche, das schon in einer Viertelstunde nicht mehr wahr sein würde, unvergänglich machen, so daß man noch in fünfzig Jahren sagen kann: Wir waren glücklich in jener Nacht.
Dann schritt Rebecca über die Wiese und stellte sich unter die riesige serbische Kiefer, nahm die Geige unters Kinn und spielte eine Etüde von Sevcik, ein Unternehmen, dem Sowtschick wegen der Namensähnlichkeit größte Aufmerksamkeit schenkte. Danach folgte ein Solo-Stück von Bach, an das er allerfrüheste Erinnerungen hatte, die ihn also ins Mark trafen, irgendein Film spielte dabei
Weitere Kostenlose Bücher