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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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festmontiertes Gesundheitsrad, daß der rote Zeiger hochgeht, wenn man entsprechend kräftig tritt. Das wurde eine Weile gemacht, und Sowtschick stand ganz in der Nähe der beiden Kinder, und wie in Gedanken nahm er die klatschnasse strähnige blonde Mähne der einen und «faßte sie zusammen», was sie ohne weiteres geschehen ließ.

    Interessanter noch als das Standrad und die Rudermaschine war der alte Flipper aus den fünfziger Jahren, der normalerweise wegen seines beträchtlichen Wertes nicht benutzt werden durfte. Nun also wurde die Stahlfeder wieder und wieder betätigt, und die blanke Kugel rief Lichtreflexe und Geklingel hervor. Wenn etwas kaputtginge in dem Mechanismus, dann könnte das ja vielleicht doch noch repariert werden.

    Es mochte sein, wie es wolle, die Arbeit rief. Sowtschick weihte die beiden in die Bedienung des Videorecorders ein, Tom & Jerry, ja, das wollten sie sehen, und er schritt, eine Fliegenklatsche in der Hand und die Ohren nach hinten gelegt, ob die zwei auch ja nicht fortgingen, hinüber ins Studio: Da lag das Manuskript, nun schon von mutmachendem Umfang, im Ansatz das Ganze erkennen lassend: Fingerling in einem Antiquitätenladen auf einem Louis-seize-Sessel sitzend und Elisabeth von Kahlen-Wottrich ihm Kaffee einschenkend. Sehr sympathisch. Das konnte so bleiben. Beim nächsten Durchgang könnte vielleicht auf das Abreißen alter Häuser eingegangen werden, wie schade das ist. Aber man kann allerhand erben, wenn man aufpaßt. Schöne Türen oder Fassadenplastiken jeder Größe. Vielleicht könnte man Fingerling und seine Freundin – aus sprachlichen Gründen – wegen des «Stapfens» im Schnee, das er schon ein bißchen zu oft verwendet hatte, Krapfen essen lassen? Das würde dem ganzen sprachlich zu Gleichgewicht verhelfen.

    Während die Mädchen drüben in der «Glotze» mit ansahen, wie Katz und Maus miteinander Katz und Maus spielten, nahm Sowtschick ein neues Blatt. Er überließ die Situation in dem Antiquitätengeschäft sich selbst und begann einen zweiten Erzählstrang: Altjahrsabend. Sein Dichter-Kollege besucht ein Kirchenkonzert. Das verschneite Städtchen, das hell erleuchtete Kirchlein, mit Eiszapfen an der Dachrinne, von überall her Menschen, die herbei«stapften», um sich von den ewigen Kompositionen des fünften Evangelisten erbauen zu lassen. Menschen, Menschen, Menschen – da waren sie plötzlich zwar stumm und auch gesichtslos, aber vorhanden, und zwar in großer Zahl: Fingerling sitzt neben einem Pfeiler, läßt die Blicke schweifen über die Musikanten und Chorsänger hinweg zum vergoldeten Klappaltar mit vergoldeten Heiligen, jeder in einer Nische ganz für sich. Und nun beginnt die Musik die ersten Takte der Eingangs-Sinfonie zu zelebrieren in gleichmäßigem Viervierteltakt. Geigen, Holzbläser und Celli, ja sogar ein Kontrabaß … Sehr junge und sehr alte Musikanten, «Lehrerinnen und Schüler gleichermaßen vereint», so schrieb Sowtschick. Und unter ihnen ein schwarzhaariges Mädchen, mit Kranz um den Kopf, eine Geigerin.

    Sowtschick rieb sich die Hände: Das würde sich ausweiten lassen: Fingerling und zwei Frauen? Wunderbar. Eine blonde Mitdreißigerin und eine junge Schwarze, das ließe sich vom Leser gut auseinanderhalten: Die eine jung und schwarzhaarig mit Geige und die andere etwas älter schon und blond, rote Pulswärmer ums Handgelenk: Das waren auch für den ungeübten Leser Orientierungshilfen übergenug.

    Sowtschick schrieb von der Kantate, wie sie sich in den Instrumenten vorbereitet und im Chor entfaltet: Und er folgte dabei seiner Vorstellung, die ihm ähnlich wie die Kamera in Musiksendungen des Fernsehens pausbäckige Engel am Orgelprospekt vorführte, den Organisten auch, vom Notenlämpchen geheimnisvoll beleuchtet. Und natürlich beschrieb er auch das schwarzhaarige Mädchen – Ulrike könnte es heißen –, das da inmitten anderer Instrumentalisten auf seiner Geige herumstreicht, und daß sie das sachlich tut, ja kühl, mit einer zur Einsamkeit entschlossenen Tapferkeit, und der Organist betrachtet das Mädchen durch den Spiegel. Das alles «sah» Sowtschick, und er hatte den Einfall, daß das eine wunderbare Gelegenheit wäre, hier ein Selbstporträt auszuführen. Er, Sowtschick, als Organist in einem Konzert, das Fingerling besucht!

    Während Sowtschick dies schrieb, dachte er gleichzeitig an eine mögliche Verfilmung seines Romans, und er stellte sich vor, daß Fingerling, die Musik noch im Ohr, an einer Kneipe

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