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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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«Unglaublich, was man alles erlebt?» Und: «Was wohl noch alles kommt?»

    S owtschick lag im Bett und zählte nach, wieviel gute und wieviel schlechte Sommer es in den letzten Jahren gegeben hatte. Dieser Sommer würde ein guter werden, gleichgültig, ob die Hitze noch anhielte oder nicht, und das war den Mädchen zu danken. Sie waren schon eine ganze Woche da, das mußte gefeiert werden, doch die Frage war: Wie?

    Ein Sommerfest, dachte Sowtschick, mit Bowle, Lampions und Kanonsingen, und er stellte sich eine Nacht vor, ganz ohne Mücken und Motten, in der es weder zu kalt noch zu warm war, mit Geruch nach Kamille und Korn.

    Vielleicht sollte man lieber noch eine Weile warten, dachte Sowtschick dann aber doch, in einer Woche kann viel passieren … Und er stellte sich vor, daß die Mädchen vielleicht patzig werden würden, oder, was schlimmer wäre, ihn mit progressiven Gesprächen elenden: Wozu die Bundesrepublik überhaupt Raketen braucht, also jene simplifizierenden Ansichten herauskehrten, die ein älterer Mensch nicht passieren lassen kann, ohne sich Vorschläge zur Abschattierung und Differenzierung verkneifen zu können, eherne Erfahrung also gegen kecken Vorwitz setzen, den Eisenbahnwaggon voll Argumente, hin und her, gegen ihre Papierflugzeuge zu schieben, von Hand und ganz allein.

    Vor dem Haus machten sich die Handwerker zu schaffen. Die Schlagermusik aus deren Radio drang zwar nur sehr leise, aber doch infernalisch zu ihm hinauf. Auf ihre Streckbank hatten sie Eisenstangen eingespannt, sie sägten quietschend daraus gleichmäßige Stücke: Gitterstäbe, die Sowtschick für seine Fluchtburg bestellt hatte. Ob er nicht welche aus Schmiedeeisen haben will, war er von den Leuten gefragt worden, gedreht und unten geschwungen? Dieser Vorschlag kam offenbar von den Mädchen, das hatten die wohl angeregt zu Zeiten, als noch Begeisterung füreinander vorherrschte. Wahrscheinlich hatten sie an ein spanisches Fenster gedacht, hinter dem eine ringellöckige Señorita sitzt, von einem Gitarren-Caballero angesungen.

    Nein, kein spanisches Schmiedeeisen, einfache Gitterstäbe wie im Gefängnis. Sowtschick wollte die Situation, in die er durch die liberalistische Gesellschaft geraten war – Einbrecher laufenzulassen anstatt sie einzubuchten! Mörder nicht zu kriegen! –, nicht kaschieren, sondern es aller Welt sichtbar machen, daß in dieser Gesellschaft, die auf Geist angewiesen ist, ebendieser nicht in Ruhe gelassen wird. Hier kamen nur Gefängnis-Gitterstäbe in Frage, keinerlei dekorativer Mumpitz. Wie er die Tür seiner Fluchtburg gestalten sollte, das würde ihm schon noch einfallen. Bisher war ihm ja noch immer was eingefallen. Er dachte da an etwas ganz Besonderes …

    Sowtschick konnte sich nicht entschließen aufzustehen. An den Sozialfall dachte er, den er würde zurückdrängen müssen, an die beiden Pferdemädchen, die heranzuziehen wären, und an Addie und Gabü, die sich in seinem Haus eingenistet hatten in verblüffender Selbstverständlichkeit: Das mußte gefeiert werden, unbedingt, aber erst in der nächsten Woche.

    Der Kleineren war er nun schon nähergekommen, «im Schoß der Nacht». Er hatte ihr Haar geordnet, sie getröstet, ja, neben ihr gelegen … Was die Große anging, das würde sich zeigen. Beide aus einem Stall und doch so verschieden. Ich werde mich in ein Wägelchen setzen und mich von ihnen durch das Dorf ziehen lassen, einmal rundherum, mit klingelnden Schellen und Blumen bekränzt …, dachte er. Über diese Vorstellung mußte er lachen. Er schlug die Bettdecke zur Seite und stand auf. Er erschrak ein wenig vor seinem Spiegelbild, das Haar wirr, das Nachthemd zerknüllt und die behaarten Beine dürr. Sein Gesicht, daran bestand kein Zweifel, war das Gesicht eines Sechzigjährigen. Man sah es: Dieser Mensch ist sechzig. Aber, und das sah man auch, er war noch «voll da», wie es die Jugendszene ausgedrückt hätte, Skilehrer sahen so aus, Skilehrer außer Dienst oder Bergführer, wettergegerbt, nach jahrzehntelangem Einsatz für die Menschheit. Sowtschick führte das Voll-da-Sein auf seine Art zu leben zurück. Nicht rauchen, kaum trinken, wenig essen und keinerlei Ausschweifungen. In stillen Stunden verglich er sich mit einem Baum, den er mal in einem Fotoband gesehen hatte, am Abhang eines Berges stehend, die Krone in jede Richtung voll ausgebildet, ein Bild schöner, gottähnlicher Harmonie.

    Das Bild, das der eben aus dem Bett gestiegene Sowtschick im Spiegel bot, hatte

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