Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Anweisung gilt nur für die derzeitige Ausnahmesituation. Haben Sie sich das blaue Auge bei einem Einsatz geholt?» Der große Ventilator neben seinem Schreibtisch brachte Bewegung in Beckers Haare und in ein paar Zeitungsblätter. Die besorgte Anteilnahme in seinem Gesicht wirkte aufgesetzt, mit der rechten Hand bemühte er sich, seine fliegenden Haare zu bändigen.
«Nein. Von wem stammt diese Anweisung?»
«Vom LKA.» Seine Stimme klang vage.
«Mir ist es egal, von wem sie stammt! Ich jedenfalls werde nur noch in konkreten Verdachtsfällen ermitteln. Ich weigere mich, ganze Familien in Panik zu versetzen. Sie werden doch nicht im Ernst davon ausgehen, dass unzählige Leute da draußen nur auf diese Hitzewelle gewartet haben, um endlich ihre Alten loszuwerden.»
Becker lachte auf die ihm eigene, etwas unangenehme Art. «Ich mag es, wenn Sie sich aufregen, Laura. Und ich hoffe natürlich, dass niemand seine Alten umbringt. Aber wir können nicht davon ausgehen. Sie sind Kriminalbeamtin und kennen sich ziemlich gut mit unseren Mitmenschen aus, nicht wahr?»
«Aber ich leide nicht unter Paranoia. Im Augenblick leide ich unter Kopfschmerzen und werde deshalb nach Hause gehen. In Notfällen bin ich über mein Handy zu erreichen. Einen schönen Abend!»
Ihr Abgang war akzeptabel, aber keinesfalls so stark, wie sie gehofft hatte.
LAURA NAHM DEN ELEKTROBUS nach Hause und duschte zum zweiten Mal an diesem Tag. Wieder ganz kurz, nur um den Schweiß abzuwaschen. Sie hatte keine Kopfschmerzen. Im Gegenteil, es ging ihr sogar ziemlich gut. Deshalb holte sie ihr Fahrrad aus dem Hinterhof und radelte zur Isar. Da war noch die Einladung zum Kaffee unterm Friedensengel. Noch nie hatte ein Obdachloser sie zum Kaffee eingeladen, und sie hatte nichts vor.
Allmählich schien sich dieser merkwürdige Zustand innerer Lähmung aufzulösen, unter dem sie seit einer Woche litt. Natürlich wusste sie genau, was mit ihr los war. Sie kannte die typischen Symptome ihres persönlichen Burn-outs. Nach sechsundvierzig Jahren war sie mit sich selbst vertraut und wusste, dass sie funktionierte, solange sie musste. Die Schwierigkeiten fingen immer erst dann an, wenn sie auf einmal Luft hatte, wenn die Anforderungen abnahmen. Erst dann konnte sie stundenlang vor sich hinstarren, erst dann durften ihre Albträume lebendig werden, erst dann begann die Zeit des Nicht-Wollens, der schwarzen Löcher. Was andere als Depression bezeichneten, war für Laura eine Zeit des Atemschöpfens, des leeren Raums, der sich ganz von selbst irgendwann wieder mit Bildern füllen würde.
Jetzt gerade entwickelte sich ein Bild: Kaffee mit einem Obdachlosen, der ihr ein blaues Auge geschlagen hatte. Ein wunderbares Bild. Es würde auch Angelo Guerrini gefallen und vermutlich ihrem Vater Emilio, der skurrile Situationen ganz besonders liebte.
Gegenüber der Sandbank, auf der am Morgen die denkwürdige Begegnung stattgefunden hatte, hielt sie ihr Fahrrad an. Im Schatten der Bäume lagen ein paar Leute in Badeanzügen herum wie schlaffe rosige Seehunde. Lange nicht so viele wie in normalen Zeiten. Niemand setzte sich inzwischen freiwillig der Sonne aus. Niemand badete in der Isar, die sich allmählich in einen Fluss der Unterwelt verwandelte. Schwer und gelblich hing der Himmel über der Stadt. Biblische Plagen, dachte Laura. Mein Froschtraum passt auch dazu.
Sie fuhr weiter, sann der Hitze nach, die ähnlich wehrlos machte wie große Kälte, sich anfühlte wie ein übermächtiger Feind, eine ungreifbare Bedrohung, die Menschen aufzulösen schien, sie in übelriechende, ständig feuchte Wesen verwandelte.
Laura erreichte die Wiese unterhalb des Maximilianeums und ließ sich im Schatten der hohen Buchen bis zum Eingang des Tunnels am Fuß des Friedensengels rollen, dessen goldene Schwingen über den Baumkronen leuchteten. Dort stieg sie ab, sie wollte sich nicht zu schnell nähern, schließlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sie erwartete. Langsam schob sie ihr Rad in die Unterführung hinein, nahm die groben roten Farbmuster an den Wänden wahr, den angenehmen Luftzug. Der Tunnel beschrieb eine sanfte Kurve, und genau in dieser Kurve parkte der silberne Anhänger, ungefähr zweieinhalb Meter hoch, eineinhalb Meter breit, vier Räder. Die Seitenwände waren herausgeklappt.
Ein paar Meter vor dem Anhänger stand ein großes Schild: «Isarsteine – das ideale Geschenk für alle! Auch Sonderangebote!»
Die Schrift war krakelig, die Farbe an ein paar
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