Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
nicht so offensichtlich. Trotzdem durfte man den wichtigen Leuten nicht zu nahe kommen – schon gar nicht als Polizist, Staatsanwalt oder Richter. Aber das war auch in Mailand nicht besser. Guerrini kam es manchmal so vor, als lieferten sich die Vertreter der Exekutive einen mehr oder weniger offenen Krieg mit denen der Legislative. Und zwischen beiden Lagern existierte die schwammige Masse der Bestechlichen, der Ratlosen und derer, die einfach taten, was ihnen persönlich die meisten Vorteile brachte.
Und er selbst? Wo stand er eigentlich selbst? Meistens war es sehr klar: immer auf Seiten derer, die korrupte Politiker und Wirtschaftsbosse zu Fall brachten … oder es zumindest versuchten. Im Grunde seines Herzens war er Anarchist, genau wie sein Vater. Wie alle anderen Bürger hasste er die unerträgliche Bürokratie seines Landes. Aber er stellte sich auch die Frage, wie es möglich war, dass dieses Land so ein Monster hatte erschaffen können, wenn alle es hassten. Er hatte den Verdacht, dass es einfach daran lag, dass niemand Interesse daran hatte, das Monster zu kontrollieren. Vielleicht, weil die Mehrzahl der Italiener eine anarchistische Seele besaß und ihr Leben irgendwie um all die staatlichen Instanzen herumlavierte, einfach machte, was sie wollte.
Noch immer schmerzte sein Kopf. Trotzdem fragte er sich, wie wohl die nationale Krankheit der Deutschen aussah. Er musste Laura danach fragen, ob seine vage Vorstellung von einem diffusen Selbsthass, gepaart mit dem Bemühen, alles gut und richtig zu machen, die innere Verfassung des Nachbarlandes einigermaßen richtig erfasste. Was hatte Laura einmal gesagt? «Die Deutschen haben ein tiefes Verlangen danach, geliebt zu werden.»
«Und wir?», fragte er den Spiegel. «Wir haben ein tiefes Verlangen danach, ernst genommen zu werden!»
Guerrini beschloss, am Mittag in sein Lieblingslokal, das Cacchiera, zu gehen, um einen Teller Minestrone zu essen. Sie würde seinen Magen wieder in Ordnung bringen. Danach wollte er die Malerin Elsa Michelangeli besuchen, die vor einer Woche wieder in ihr Landhaus südlich von Siena zurückgekehrt war. Es gab da noch ein paar Fragen, die Guerrini ihr stellen wollte. Behutsam natürlich, sie war gerade erst halbwegs genesen, und er hatte ja Zeit. Es wäre auch gut, nochmal mit Laura darüber zu reden, allerdings hatte sie, im Gegensatz zu ihm, nie mit Elsa Michelangeli gesprochen.
In diesem Augenblick wurde ihm auf sehr unangenehme Weise bewusst, dass er sich nicht an den Inhalt des Telefongesprächs erinnern konnte, das er vergangene Nacht mit Laura geführt hatte. Es stand zu befürchten, dass er lauter dummes Zeug geredet hatte.
Guerrini warf einen letzten Blick in den Spiegel und schloss an seinem dunkelblauen Polohemd den zweiten Knopf von oben – den obersten ließ er offen, der Hitze wegen und weil es besser aussah. Dann machte er sich auf den Weg zum Questore, der ausgerechnet heute mit ihm über den Fall Altlander/Montelli reden wollte. Vielleicht konnte er seinen Vorgesetzten dazu bringen, diese Besprechung ins Cacchiera zu verlegen.
Laura telefonierte. Fragte die Kollegen des zuständigen Polizeireviers, ob ihnen regelmäßige Treffen von singfreudigen Neonazis an der Isar aufgefallen seien. Die Auskünfte waren nicht sehr befriedigend. Ja, schon … Irgendwas hätte man bemerkt, und ein paar Spaziergänger und Anwohner hätten sich auch beschwert. Aber bisher sei nichts vorgefallen, was ein Einschreiten der Polizei gerechtfertigt hätte. Es sei ja auch gar nicht bewiesen, dass es sich um Neonazis handele, könnte ja auch alles ganz harmlos sein.
«Die einen singen, die andern trommeln!», sagte der Kollege und lachte ein bisschen angestrengt.
«Kommt aber drauf an, was die singen!», erwiderte Laura. «Vielleicht habt ihr noch nicht genau hingehört!»
«Wir haben in diesen Tagen alle Hände voll zu tun, Frau Hauptkommissarin. Da ist keine Zeit, die Lieder der vielen Isarpartys auf ihre Verfassungstreue zu überprüfen!» Wieder lachte er.
Grußlos beendete Laura das Gespräch. Ein paar Minuten blieb sie still an ihrem Schreibtisch sitzen und spürte dem Lachen und ihren eigenen Empfindungen nach. Sie mochte nicht, was mit den Hitzeschwaden aus der Stadt aufstieg. Mochte das Gefühl der Bedrohung nicht, ihre Vorahnungen und Träume, verabscheute den Gestank. Am allerwenigsten ertrug sie den dicken Frosch, den Toten aus der Isar und grölende Neonazis.
Als es kräftig an ihrer Tür klopfte, schrak
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