Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Fernando in Ruhe und er sie, meistens jedenfalls. Wenn er in ihr Revier eindrang, jagte sie ihn wieder hinaus. Sie hatte viele Freundinnen, die Guerrini ein wenig seltsam fand, und sammelte Heilkräuter mit ihnen und alte Heilrezepte. Sein Vater behauptete bis heute, dass Guerrinis Mutter Leute verhexen konnte. Angeblich hatte jeder, dem sie auf die Schwelle spuckte, innerhalb weniger Tage einen Unfall.
«Ich könnte dir jede Menge Beispiele nennen!», sagte er immer wieder. Aber er tat es nicht, behielt die Beispiele für sich.
Stets war etwas Geheimnisvolles um diese Mutter gewesen, obwohl sie sich meistens wie alle anderen Mütter verhielt … ihn ein bisschen zu sehr kontrollierte, verwöhnte und ein bisschen überbesorgt war. Aber sie kleidete sich anders als die Damen des Sieneser Mittelstands, eher wie eine Bäuerin, trug dunkle Kleider mit langen Röcken und ging sehr aufrecht. Meist hingen große Creolen an ihren Ohren, und sie hatte sehr dichte schwarzbraune Haare, die sie zu einem Knoten steckte. Die bernsteinfarbenen Augen hatte Guerrini von ihr geerbt. Er erinnerte sich daran, dass die Leute auf der Straße seiner Mutter häufig nachgesehen hatten.
Trotz ihrer Fürsorge hatte sie ihrem Sohn auch viele Freiheiten gelassen, ihm Bücher hingelegt, die sein Vater niemals gelesen hätte. Und sie sagte nie: Du musst das lesen, Angelo. Sie legte die Bücher nur hin, und irgendwann wurde er neugierig und fing an, Die göttliche Komödie von Dante zu lesen, Der Leopard von Lampedusa, alle möglichen Gedichtbände, moderne Kurzgeschichten. Später ließ sie ihn ohne Schwierigkeiten gehen, beklagte sich nicht, als er in Rom studierte, dann nach Florenz zog und bald darauf Carlotta heiratete.
Erst im Alter hätte sie ihn gern zurückgehabt, kämpfte sogar um ihn, allerdings nie offen, immer im Stillen. Guerrini war sicher, dass sie sich plötzlich einsam fühlte, neben seinem Vater, der so ganz in seinem Leben aufging, in der Jagd, in seinem Stadtviertel, der contrada, den Geschäftsfreunden, seinem Handel mit toskanischer Keramik. Bis zu ihrem Tod hatte sie den Kampf um ihren Sohn nicht aufgegeben. Guerrini war ziemlich sicher, dass sie es auch mit Hexerei versucht hatte.
Sie war ganz überraschend gestorben, obwohl sie immer als sehr gesund galt, hatte einen Schlaganfall, den sie nur um eine Woche überlebte. Ihren Sohn ließ sie mit einer Mischung aus Trauer, Schuldgefühlen und Erleichterung zurück. Ja, tatsächlich Erleichterung, Guerrini war sich selbst gegenüber ehrlich genug, um das zu wissen.
Seither ging es ihm besser. Auch das war eine Tatsache. Aber er liebte seine Mutter auf neue Weise und steckte ab und zu eine Rose auf ihr Grab. Immer wieder empfand er Trauer darüber, dass er sie nie wirklich kennengelernt hatte. Heute hätte er viele Fragen an sie.
Er hatte einmal einen Spruch gehört, den er damals merkwürdig gefunden hatte. Es war ein alter Pfarrer gewesen, der nach einer Beerdigung gesagt hatte: «Wenn die Alten sterben, kommen die Jungen in ihre Kraft!»
Hatte er mehr Kraft seit dem Tod seiner Mutter? In gewisser Weise ja, er konnte auch anders lieben. Aber vielleicht lag das eher an seiner Lebenserfahrung. Seine Frau Carlotta hatte er als sehr fordernd erlebt, er hatte sich verpflichtet gefühlt, ein guter Ehemann zu sein. Besser als sein Vater jedenfalls. Es hatte nicht besonders gut funktioniert.
Bei Laura war das anders. Er wünschte sich inzwischen sogar, dass Laura mehr von ihm forderte. Doch noch immer hielt sie sich sehr zurück. Manchmal machte ihn das wütend, meistens eher unsicher.
Vielleicht sollte er sie einfach fragen, ob sie zu ihm nach Siena kommen wolle. Aber sie hatte einen guten Job, zwei Kinder. Vermutlich würde sie ihn ansehen, als hätte er den Verstand verloren. Sie mit diesem Wunsch konfrontieren, das konnte er allerdings. Es würde die Dinge zwischen ihnen ehrlicher und klarer machen.
Entschlossen sprang er aus dem Bett und stolperte über den alten Jagdhund Tonino, der sich vor seiner Schlafzimmertür zusammengerollt hatte, sich jetzt mühsam aufrappelte und entschuldigend wedelte. Guerrini kraulte den Kopf des Hundes, ging dann in die Küche und setzte die Espressomaschine in Gang, die er seinem Vater geschenkt und die dieser vermutlich noch nie benutzt hatte. Inzwischen war es kurz nach sechs.
Guerrini wusch sich nur flüchtig wegen des Wassermangels. Beim Rasieren dachte er über das Gespräch nach, das er gestern mit seinem Vorgesetzten, dem
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