Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Questore, geführt hatte. «Da entwickelt sich so etwas wie ein Staat im Staat», hatte der Questore gesagt und die Chinesen in Prato, dem Zentrum der italienischen Modeindustrie, gemeint. «Da geht es nicht um Einwanderung oder Integration. Diese Menschen kommen ausschließlich nach Italien, um Geld zu verdienen, und leben im Ghetto. Sie lassen sich auf geradezu unglaubliche Weise ausbeuten. Viele bekommen gerade mal einen oder zwei Euro pro Stunde, manche gar nichts. Sie leben in schrecklichen Umständen und arbeiten wie Roboter. Aber sie halten unsere Modeindustrie am Leben, und deshalb müssen wir bei unseren Ermittlungen sehr vorsichtig sein. Es haben sich schon drei wichtige Politiker besorgt geäußert. Natürlich nur intern, nicht in der Öffentlichkeit. Denken Sie nur an die Geschichte mit den tiefgefrorenen chinesischen Leichen, die auf verschiedenen Schiffen entdeckt wurden, die nach China auslaufen sollten. Erst gab es ein Riesengeschrei, dann hörte man nichts mehr davon. War ja auch alles ganz harmlos: Chinesen müssen in der Heimaterde begraben werden, deshalb muss man sie eben irgendwie zur Heimaterde bringen, wenn sie in der Fremde sterben. Was so gut wie verschwiegen wurde: Die eingefrorenen Chinesen hatten natürlich keine Papiere. Und was dann vermutet, aber nie nachgewiesen wurde: Mit den Papieren der Toten konnten lebendige Chinesen nach Italien einreisen oder illegale Einwanderer legal gemacht werden.»
«Und das alles hat der tote deutsche Schriftsteller Altlander dokumentiert?», warf Guerrini ein.
«Sehr gut hat er das dokumentiert. Und die Sache stinkt zum Himmel. Sie stinkt von allen Seiten: von unserer, weil wir die Chinesen ja wollen und gern ausbeuten, und von chinesischer Seite her, weil deren Bosse sich bereichern und die eigenen Leute wie Dreck behandeln.»
«Ja, so sehe ich das auch», hatte Guerrini gesagt. «Was also machen wir? Immerhin haben wir zwei Chinesen in Untersuchungshaft, denen versuchter Mord vorgeworfen wird.»
Der Questore hatte sich eine Zigarette angezündet. «Wir machen erst mal gar nichts, Guerrini. Die Warnblinkanlagen sind überall aktiviert, deshalb Vorsicht! Aber es wäre schön, wenn Sie sich ein bisschen umhören würden. Natürlich ganz diskret und sozusagen unabsichtlich. Falls Sie etwas herausfinden, dann sagen Sie es ausschließlich mir, Commissario.»
Das war’s. Guerrini schabte entschlossen die Bartstoppeln samt Rasierschaum von Wangen und Kinn. Eigentlich hatte er nicht die geringste Lust, sich mit den Chinesen einzulassen. Wozu gab es schließlich Polizisten in Prato. Er war Commissario in Siena, und ihn interessierte im Augenblick viel mehr, wie es Elsa Michelangeli ging, der alten Freundin des toten deutschen Schriftstellers.
Er trocknete sein Gesicht, kehrte in die Küche zurück und schenkte sich Kaffee ein. Tonino stand hechelnd vor ihm.
«Auch Durst?» Guerrini füllte die Wasserschüssel des Hundes. Tonino wedelte und soff mit unflätig lautem Schlabbern. Es war gut, dass Fernando Guerrini sich auf seine alten Tage zum Langschläfer entwickelt hatte. So konnten sie diese Zwangswohngemeinschaft ganz gut ertragen. Der alte Mann war nämlich nicht besonders begeistert gewesen, als er seinen Sohn als Hitzeflüchtling aufnehmen musste.
Während Guerrini sich anzog, beschloss er, nicht in der Questura vorbeizuschauen, sondern gleich zu Elsa Michelangeli hinauszufahren. Inzwischen galt es nämlich, das Büro ebenso zu meiden wie seine Wohnung. Beide Orte hatten sich in Brutöfen verwandelt.
Laura wachte um fünf nach sieben auf und begriff augenblicklich, dass sie verschlafen hatte und längst im Präsidium sein sollte, aber es war nicht zu ändern und deshalb egal. Stärker als für ihre Verspätung interessierte sie sich für das Telefon, das neben ihr auf dem Bett lag. Sie wusste, dass sie zu feige gewesen war, Angelo anzurufen. Jetzt sofort würde sie das nachholen und ihm sagen, dass sie gern bei ihm wäre. Langsam wählte sie seine Nummer, löschte sie aber wieder, weil ihr einfiel, dass er im Moment bei seinem Vater wohnte. Das war komplizierter, denn sie wollte nicht mit dem alten Guerrini reden, trotzdem versuchte sie es. Niemand meldete sich. Zuletzt rief sie Guerrinis Handy an, aber das war abgeschaltet, und sie brachte es nicht fertig, auf seine Mailbox zu sprechen.
So legte sie das Telefon zum Aufladen zurück, stopfte Ralfs Kleider in die Waschmaschine, schloss das Badezimmer von innen ab und duschte länger als sonst,
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