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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Rhabarbertorte aus der Küche.
    Edith sprach weiter deutsch mit Miller.
»Kurz vor seinem Tod hat er mir noch einen traurigen Brief geschrieben. Er muss
geahnt haben, dass er mich und die Kinder nicht Wiedersehen würde. Er bat mich,
dafür Sorge zu tragen, dass, was auch immer mit ihm geschehen würde, die
Mädchen es einmal gut haben sollten. – Major, wenn ich John nicht kennen gelernt
hätte, ginge es uns jetzt ziemlich dreckig. Verstehen Sie das Wort ›dreckig‹?«
Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »In dem Gymnasium, wo ich jetzt
unterrichte, haben wir einen Kollegen, der Jagdflieger war. Mir wird speiübel,
wenn er von seinen glorreichen Luftkämpfen spricht, und unter uns wohnt eine
Frau Hansen, auch Kriegerwitwe. Ihr Mann war ein hohes Tier beim Finanzamt, ein
Jurist, ›alter Herr‹ in einer schlagenden Verbindung, wie man seiner zerfetzten
Visage deutlich ansehen konnte. Auch privat hat er sich mit ehemaligen
Korpskameraden, überwiegend SS- und Polizeioffizieren, hier im Haus getroffen.
Dann haben sie bis spät in die Nacht hinein Karten gespielt und sich volllaufen
lassen. Sich über den Lärm zu beschweren hatte, wie Sie ahnen werden, natürlich
niemand gewagt. Sie sollten die Wohnung von Frau Hansen einmal sehen, Major.
Vollgestellt mit teuren antiken Möbeln, die ihr Herr Gemahl für einen
Pappenstiel – selbstverständlich preußisch korrekt gegen Quittung – den Juden
in der Umgebung vor ihrer Deportation abgekauft hat. Dem Doktor Rosenbaum von
schräg gegenüber, dem Rechtsanwalt Hirsch hier im Haus, dem Apotheker
Mandelspan auf der anderen Seite vom Klausener Platz, um nur einige zu nennen.
– Frau Hansen hat objektiv gesehen recht, wenn sie heute verlauten lässt, dass
die Zeiten unter dem Führer besser waren.« Edith Jeschke blickte Miller fest in
die Augen. »Aber ich will nur noch eines: Weg mit den Kindern, weg aus Berlin,
weg aus Deutschland. – Verstehen Sie das, Major?«
    Miller nickte.
    Der Sergeant hatte die Stirn gerunzelt,
als sein Name gefallen war, hatte aber mit seinen paar Brocken Deutsch der
Unterhaltung nicht folgen können.
    »I was just going to tell the Major about
our future plans, John.«
     
     
    Als Miller nach Hause zurückkehrte, machte der dicke
Leutnant auf der Wiese neben der Garage konzentriert Angeltrockenübungen. Er
schleuderte mehrfach mit der dreigliedrigen Teleskopstange einen glitzernden
Gegenstand am Ende der Angelschnur in die Richtung eines mit Handtüchern
geformten Kreises am Wiesenende.
    »Versuchen Sie Vögel zu fangen,
McCullen?«
    »Nein, Major. Ich will nur ein Gefühl für
meine neuen Hechtblinker bekommen.« Er deutete auf den länglichen Metallkasten,
den er am Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten erstanden hatte.
    »Dann mal Petri Heil!«
    »Danke, Sir!«

 
    8. Kapitel
    Die
Klaviersaite
     
     
     
    Fräulein Schwandt verließ ihr Haus im
Frohnauer Kasinoweg lediglich, um einmal in der Woche zum Kaufmann und Bäcker
am Ludolfinger Platz zu gehen. Berlin hungerte, Fräulein Schwandt nicht. Das,
was der Garten hergab, hatte stets ausgereicht, um sie zu ernähren, und viel
mehr als die paar Lebensmittel, die sie jetzt auf ihre Berechtigungskarte der
Stufe V erhielt, hatte sie sowieso nie dazugekauft. Sie war spindeldürr, war
immer spindeldürr gewesen, kerngesund und brauchte auch im achten
Lebensjahrzehnt weder eine Brille zum Lesen noch zum Beobachten der Schwalben,
deren Nester unter der Dachtraufe der Villa auf dem Nachbargrundstück klebten.
Fräulein Schwandt liebte Schwalben. Überhaupt liebte sie alle Tiere. Mehr
jedenfalls als die Gattung Mensch. Sie besaß keine Freunde, keine Verwandten
und hatte seit Jahrzehnten selbst keinerlei Kontakt zu ihren unmittelbaren
Nachbarn, litt aber keineswegs unter diesem Zustand, denn Fräulein Schwandt
lebte nur physisch in dieser Welt. Ihr eigentliches Zuhause war die Welt der
Theosophie, der Anthroposophie und die des Buddhismus. Was in der äußeren Welt,
im Sansara, in den Regionen des »roten Staubs«, passierte, tangierte sie nur
peripher. Alles in der Dingwelt war vergänglich, auch »Tausendjährige Reiche«.
    Während sie nach dem morgendlichen
Unkrautjäten auf einem Klappstuhl hinter der Gartenhecke gerade Die Stimme
der Stille von Madame Blavatsky aufschlug, hielt ein Lastkraftwagen vor dem
Nachbargrundstück.
    Wie mit den Vorbesitzern der Villa hatte
sie auch mit den neuen Bewohnern kein einziges Wort gewechselt. Fräulein
Schwandt, die davon überzeugt war, dass sie die

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