Hungerkralle
ausriefen.
Die Razzien der westalliierten
Stadtkommandanten und der Berliner Polizei in den vergangenen Monaten hatten
nicht im Geringsten bewirkt, dass vor dem Reichstag und den angrenzenden Teilen
des Tiergartens weniger Menschen verbotene Geschäfte abwickelten. Trotz aller
Illegalität gaben sich dort außer Abertausenden von Berlinern auch unvermindert
Uniformierte aller vier Besatzungsmächte ein Stelldichein.
Major Miller fuhr langsam zum
Sowjetischen Ehrenmal an der Charlottenburger Chaussee weiter. Den Tiergarten
von früher gab es nicht mehr. Aus den Deutschen war ein Volk von Kleingärtnern
geworden. Miller hatte sogar ein Heftchen vom Institut für Ernährung und
Verpflegungswissenschaft in die Hand bekommen, in dem die Bevölkerung über das
Sammeln und die Verwendung von Wildkräutern aufgeklärt wurde. Gleich in
unmittelbarer Nähe des Monuments begannen die landwirtschaftlich genutzten
Flächen. Überall in der Stadt wurden jetzt wegen der Lebensmittelnot auf
geeigneten Flächen von Kartoffeln bis Tabak fast alle Feldfrüchte angebaut.
Auch hier feilschte man eifrig. – Und plötzlich stutzte er.
Niemand anders als sein Mitbewohner,
Leutnant McCullen, gestikulierte beidhändig mit einem stiernackigen Zivilisten
und einem anderen dicken Mann, dessen Gesicht von Mensurnarben zerfurcht war.
Dann schüttelten beide dem Leutnant die Hand. Der entfernte sich mit einem
flachen, länglichen Metallkasten unter dem Arm durch die Menschenmenge in
Richtung auf einen offenen Jeep am Straßenrand vor dem Ehrenmal, in dem ein
weiterer amerikanischer Leutnant saß. Miller passierte den Jeep im
Schritttempo. Offenbar war es McCullens Anglerfreund, denn auf der Rückbank
lagen mehrere Angelruten. Miller gab Gas, bevor sein Mitbewohner aus der
Menschentraube auftauchte.
Das Haus Klausener Platz 5 hatte den
Krieg glimpflich überstanden, wenn man von den MG-Einschusslöchern in der
Fassade absah.
Edith Jeschke und Sergeant Burns öffneten
dem Major die Wohnungstür. »Welcome, Sir!« Der Sergeant grüßte militärisch.
Edith reichte Miller mit einem Lächeln
die Hand. »Please come in, Major! Would you like coffee or do you prefer tea?«
Burns’ deutsche Freundin sprach ausgezeichnet
Englisch. Sie war, bevor sie die Kinder bekommen hatte, Englischlehrerin
gewesen und unterrichtete jetzt auch wieder halbtags an einem nahen Gymnasium.
Sogar die Mädchen konnten schon ein paar Brocken. Miller überreichte ihnen die
Schokoladentafeln. Sie knicksten brav und bedankten sich: »Thank you very
much!«
Edith verschwand in der Küche, um Kaffee zu kochen, Burns
folgte ihr mit der Bemerkung: »Ich hole schon mal den ›Rarebarber‹-Kuchen,
Sir.«
Miller tat das, was er immer tat, wenn er
Gelegenheit dazu hatte – er inspizierte den Bücherschrank seiner Gastgeberin
hinter dem bereits eingedeckten Wohnzimmertisch: Die deutschen Klassiker wie
Goethe und Schiller waren stark vertreten, meist in Schmuckausgaben, aber der
Major entdeckte auch mehrere Bände Heinrich Heine, Hermann Hesse, Thomas Mann
sowie englischsprachige Literatur von Shakespeare über Kipling bis Edgar
Wallace. Die Bücher in einem verglasten Regal neben dem Schrank waren
naturwissenschaftliche Fach- und Sachbücher, zumeist zum Themenkreis Physik,
aber auch christliche Werke.
»Das sind Bücher von meinem Mann. Er war
auch Lehrer«, sagte Edith Jeschke auf Englisch und stellte die Kaffeekanne in
die Tischmitte. »Physik und Mathematik. Er und ich haben die Nazibande gehasst
wie die Pest. Zwei unserer besten Freunde, Kommilitonen von der Universität,
sind in Oranienburg ermordet worden.«
»Juden?«
»Nein, einer war Kommunist, der andere
gehörte dem Kreis von Pastor Niemöller an.«
Miller zeigte auf ein gerahmtes Foto über
dem Bücherregal. Ein Mann mit zwei Kleinkindern auf dem Schoß. »Ist er das?«
»Ja.«
»Ich hörte von Sergeant Burns, dass er
nicht aus Russland zurückgekehrt ist.«
»Yes, indeed, Major.« Sie wechselte ins
Deutsche. »Er ist in Stalingrad umgekommen. Elendig krepiert nach einer
Beinamputation.« Miller horchte auf. Wenn die Deutschen davon sprachen, dass
jemand im Krieg getötet wurde, sagten sie meistens, dass der Betreffende
»gefallen« war.
»Das tut mir leid«, murmelte Miller etwas
verunsichert durch die Offenheit, mit der die junge Frau mit ihm über den Tod
ihres Mannes redete. Sie war eine sympathische, gut aussehende Brünette,
vielleicht ein, zwei Jahre jünger als der Sergeant.
Burns brachte die
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