Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
Vom Netzwerk:
und ich war sein. Es endete schlecht, wie
man so sagt, wer immer «man» ist, aber seine Augen, die mich beim Ausziehen beobachteten
- nein, erst deine Bluse. Jetzt den Rock.
Langsam — , seine langen Finger, die in meine Schamhaare krochen, sich
zurückzogen, mich scharfmachten, mich zur Verzweiflung brachten - diese frevelhaften
Lüste in der Bibliothek, nachdem sie geschlossen hatte, bewahre ich sicher in meiner
Erinnerung.
    George ist
tot», sagte meine Mutter und presste einen Moment lang den Zeigefinger auf ihren
Mund. «Sie wurde heute Morgen im Bad auf dem Fußboden gefunden.»
    «Arme George»,
sagte Regina. Sie schob die Lippen vor. «Ich bezweifle, dass ich es bis hundertzwei
schaffe; es ist wirklich außergewöhnlich, wenn man darüber nachdenkt, sogar einen
Augenblick lang.»
    Dachten Leute
einen Augenblick über etwas nach?
    «Nicht mit
meinem Bein», fuhr sie fort. «Ich hatte von dem, was ich habe, noch nie gehört,
weißt du. Der Doktor hat mir gesagt, wenn ich nicht vorsichtig bin, geht es eines
Tages direkt in Ihr Gehirn, in Ihre Lunge oder sonst wohin.» Ihre Augen machten
einen feuchten Eindruck. «Wenn ich das Coumadin vergesse, dann, tja, ist es vorbei.»
    «Sie erzählte
Leuten so gern, wie alt sie war.» Abigail stützte ihren buckligen Körper mit einer
Hand auf der Tischkante ab. Sie wandte mir den Kopf zu. «Sie wurde es nie leid.
Ihre älteste Tochter ist neunundsiebzig.» Sie atmete ein. «Es scheint, als würde
jeden Tag eine von uns gehen. Im Augenblick noch lebendig. Im nächsten tot.»
    Peg betrachtete
ihre Hände auf dem Tisch. Sie waren voller Altersflecken und von dicken, vorstehenden
Adern durchzogen. «Sie ist bei ihrem Schöpfer.» Peg hatte einen richtigen Triller
in der Stimme, wie das kehlige Gurren einer Taube. «Und bei Alvin», fügte sie hinzu.
    «Möge Gott
sie vor Alvin bewahren, es sei denn, sie haben den Mann im Himmel neu gemacht»,
sagte Abigail entschieden. «Der pingeligste kleine Tyrann, den ich je gesehen habe.
Seine Stifte mussten immer genau zwei Zentimeter auseinanderliegen, seine Kragen
mussten glatt, glatt, glatt gebügelt werden. Das Bett, Gott, das Bett und seine
Ecken. George hatte Glück, ihn los zu sein. Hatte siebenundzwanzig gesegnete Jahre
ohne diesen kahlköpfigen, gemeinen kleinen Despoten.»
    «Abigail, es
ist nicht recht, so über Tote zu sprechen», sagte Peg mit ihrem süßen Trällern.
    Abigail hörte
nicht zu. Sie drückte mir unter dem Tisch einen Zettel in die Hand. Ich nahm ihn
und steckte ihn in die Tasche.
    Meine Mutter
schüttelte den Kopf. «Ich fand es auch nie richtig, Leute nach ihrem Tod in einen
Ausbund an Tugend zu verwandeln.»
    Ich murmelte
etwas Zustimmendes.
    «Es ist nicht
schlimm, die Dinge optimistisch zu sehen.» Beim drittletzten Wort hob sich Pegs
Stimme um eine ganze Oktave. Sie lächelte.
    «Ganz und gar
nicht», sagte Regina mit ihrer eigentümlichen Betonung. «Mit meinem Bein muss ich
ja optimistisch und hoffnungsvoll bleiben. Was bleibt mir anderes übrig? Wenn da
was platzt, ist es aus, dann geht es direkt ins Gehirn oder ins Herz, ein Sekundentod.»
    Wir saßen im
Spielzimmer um den Bridgetisch. Das Sommerlicht schien durchs Fenster, und ich blickte
hinaus auf die Wolken, von denen eine wie ein Rauchring nach oben trieb. Ich hörte
einen Trockner irgendwo hinten im Flur Wäsche herumschleudern, und das leise Brummen
eines Motorrollers, aber das war alles. Vier Schwäne.
     
    Mia,
    ich habe Ihnen
noch mehr zu zeigen. Würde Ihnen
    Donnerstag
passen?
    Grüße
    Abigail
     
    Jedes Wort
war ein zitterndes, aber sorgfältiges Gekrakel. Ich erinnerte mich an etwas, was
meine Mutter einmal gesagt hatte: «Alt werden ist schön. Das einzige Problem ist,
dass dein Körper in die Binsen geht.»
    «Deine Poesie
ist hirnrissig», hatte mein anonymer Quälgeist geschrieben. «Niemand kann sie verstehen.
Niemand will so eine aufgeblasene Scheiße. Für wen hältst Du Dich?! Mr. Niemand»
     
    Ich las die
Nachricht mehrmals. Je öfter ich sie las, umso absonderlicher klang sie. Das wiederholte
Niemand, gefolgt von dem Pseudonym Niemand, klang, als würde er, Niemand, sie verstehen und tatsächlich aufgeblasene Scheiße wollen. Für wen hältst Du Dich? wurde in diesem Fall zu einer völlig
anderen Frage. Sich verschiebende Bedeutungen. Es schien unwahrscheinlich, dass
das Phantom ironisch war und einen Metawitz über das neue Diktum für «zugängliche»
Gedichte machte oder mit den Worten aufgeblasene Scheiße und

Weitere Kostenlose Bücher