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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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hirnrissig spielte. Außer,
es war Leonard, aus der Psychiatrie entlassen, der mich aus irgendeinem absonderlichen,
nur ihm bekannten Grund belästigte. Es stimmte ja, dass ich mich jahrelang mit Arbeiten
herumgequält hatte, die wenige wollten oder verstanden, dass meine Isolation zunehmend
schmerzlicher geworden war und dass ich Boris mit meinen Schimpfkanonaden gegen
unsere seichte, minderwertige, erbittert antiintellektuelle Kultur, die Mittelmäßigkeit
verehrt und ihre Dichter verachtet, überschüttet hatte. Wo war in New York die Whitman
Street? Ich hatte über die Dichter gejammert, die für die wenigen verbliebenen
geistigen Normalverbraucher in den Vereinigten Staaten schrieben, welche sich die
Mühe machten, einen Blick auf ein oder zwei schwache Zeilen in ihrem New Yorker zu werfen und sich daran hochzuziehen, dass sie gerade
ein Häppchen anspruchsvollen poetischen Empfindens oder Esprits über Rasen, alte
Uhren oder Wein genascht hatten, weil das es schließlich in die Zeitschrift geschafft hatte. Ablehnung staut sich auf;
nistet sich wie schwarze Galle im Bauch ein, die ausgekotzt zu einer Tirade wird,
zum leeren Gerede einer rothaarigen Dichterin gegen die Ignoranten und Insider des
Kulturbetriebs, die es versäumt haben, sie anzuerkennen, und der arme Boris hatte
mit ihrem/meinem grölenden Geheul gelebt, Boris, dem jeder Konflikt ein Gräuel
war, ein Mann, dem die erhobene Stimme, der leidenschaftliche Ausruf wie Sandpapier
an der Seele schabten. Paranoia ist auf Ablehnung aus. War ich in den Tagen meiner
vollständigen klinischen Gestörtheit nicht paranoid gewesen? Sie hatten sich gegen mich verschworen. Jetzt hatten diese Wörter
auf dem Bildschirm, Niemands Wörter, den Platz der anklagenden Stimmen in meinem
Kopf übernommen. Alle hassen dich. Du bist nichts. Kein Wunder, dass er dich verlassen
hat. Es war, als wüsste Mr. Niemand Bescheid, als wäre ihm klar, wohin er schlagen
musste. Ich dachte an George, die am selben Morgen auf dem Badezimmerfußboden gelegen
hatte, und die Zukunft wurde plötzlich unermesslich und öde zugleich, und die Zweifel,
die ständig nagenden verzerrenden Zweifel, dass meine Gedichte Mist waren, eine
Verschwendung, dass ich mich nicht zur Erkenntnis hinaufgelesen hatte, sondern in
ein unergründlich tiefes Vergessen, dass ich und nicht Boris an der Pause schuld
war, dass mein wirklich großes Werk, Daisy, hinter mir lag - diese Zweifel schienen
alle zu stimmen. In der Menopause, verlassen, abgetakelt und vergessen, wie ich
war, blieb jetzt nichts mehr für mich übrig. Ich legte den Kopf auf den Schreibtisch,
dachte verbittert, dass nicht einmal der mir gehörte, und fing an zu weinen.
    Nach einigen
Minuten des Schluchzens aus voller Kehle spürte ich jemandes warmen Atem auf meinem
Arm und schreckte auf. Flora und Giraffi standen ganz dicht neben mir. Die Augen
des Kindes waren gerundet vor Aufmerksamkeit. Ein Teil ihres hellbraunen Haars
hing unter der Perücke heraus, und die Haut rund um ihren Mund war von einer unbekannten
Substanz rosa gefärbt. Wir sahen uns an. Keine sagte etwas, aber ich spürte, dass
sie mich mit den kalten Augen einer Wissenschaftlerin, vielleicht einer Zoologin,
beobachtete. Ihr nüchterner Blick nahm das ganze Tier in sich auf, schätzte sein
Verhalten ab, und dann, ohne ein Wort, handelte sie. Sie hob Giraffi hoch und streckte
sie mir entgegen. Es war keineswegs klar, was sie mit dieser Geste beabsichtigte,
also wischte ich mir, statt Giraffi zu nehmen, mit dem Handrücken die Augen ab und
tätschelte dem schmuddeligen Geschöpf den Kopf.
    Gleich darauf
hörte ich Lola laut und dringlich ihre Tochter rufen, ich nahm Floras Hand, was
sie problemlos, unbefangen geschehen ließ, und wir gingen in das andere Zimmer,
um Lola und Simon (im Buggy) draußen vor der offenen Fliegengittertür zu begrüßen.
Ich sah, dass Lola mein Gesicht auffiel; ich habe keine Ahnung, wie es aussah -
rot und verschmiert mit Tränen und Wimperntusche vermutlich —, aber ihre Stirn
legte sich für einen Sekundenbruchteil mitfühlend in Falten. Die junge Mutter sah
in dem Moment recht ungepflegt aus, beinahe schlampig in ihren abgeschnittenen
Jeans, dem rosa Neckholder-Top und selbstgebastelten Ohrgehängen; zwei goldene Vogelkäfige
hingen an ihren Ohrläppchen. Sie hatte ihr gebleichtes Haar zurückgebunden, und
ich bemerkte, dass sie auf der Nase ein wenig sonnenverbrannt war. Ich erinnere
mich an diese Details, weil mir auf einmal klarwurde, wie froh ich
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