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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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war, sie zu sehen,
und durch dieses Gefühl haben sich mir die Einzelheiten der Begegnung eingeprägt.
Inzwischen war es halb sieben am Abend. Pete war wieder einmal weg, und sie wollte
versuchen, die Kinder ins Bett zu kriegen, und dann, sagte sie mit einem offenen
Lächeln, plane sie, eine Flasche Wein zu köpfen und die Quiche zu essen, die sie
am selben Tag gemacht hatte, und sie würde sich sehr freuen, wenn ich mitäße; ich
nahm mit einer Begeisterung an, die mir unter fast allen anderen Umständen peinlich
gewesen wäre, mir in diesem Fall aber völlig «normal» vorkam. Meine Mutter war in
ihrem Lesezirkel und diskutierte bei einer Käseplatte Austens Emma, und ich hatte keinerlei Verpflichtungen.
    Und so kam
es zu dem Abend, an dem wir zusammen das parallele Schlafenlegen in Angriff nahmen.
Meinerseits erforderte dies eine komplexe Strategie, den frisch gestillten Simon,
der anscheinend Koliken hatte, zu wiegen, zu schaukeln und gelegentlich zu schütteln.
Der kleine rote Mann wand sich vor Beschwerden, spuckte Milch auf meine Schulter
und entließ dann, nachdem er sich mächtig angestrengt hatte, mit einem einzigen
glückseligen Stoß einen Klumpen sahniger gelber Kacke in seine Windel, die ich zufrieden
wechselte, während ich seinen winzigen, reizenden Penis und seine erstaunlich dazu
passenden Testikel untersuchte und seinen Po in Pampers verpackte, worauf ich einen
Schaukelstuhl fand, in dem wir uns niederließen, und den kleinsten Spross der Familie,
Schlaflieder singend, in Morpheus' Arme oder vielmehr Schoß wiegte. Unterdessen
führte Lola einen parallelen Kampf mit dem plappernden, noch nicht vierjährigen
Früchtchen Flora, das auf dem Weg zu dem, was Sir Thomas Browne einst den «Bruder
des Todes» nannte, herumtrödelte, -kasperte und -feilschte. Tapfer, oh, so tapfer,
kämpfte Flora mit jeder nur möglichen List gegen den Verlust des Bewusstseins an:
Gutenachtgeschichten und noch ein Glas Wasser und nur noch ein einziges Lied, bis
auch sie, von den Härten des Kampfes erschöpft, zusammenklappte, den Knöchel des
zusammengerollten Zeigefingers im Mund, den freien Arm auf der Bettdecke mit einem
großen lila Dinosaurier darin, während Giraffi und sein Genosse, das vom Kopf des
schlummernden Kämpen gestohlene wasserstoffblonde Biest, vom Nachttisch aus Wache
hielten.
     
    Lola und ich
aßen die Quiche und gaben uns im Verlauf der nächsten paar Stunden die Kante. Sie
lag auf dem Sofa, die Vogelkäfige im Licht glitzernd, die gebräunten rundlichen
Beine ausgestreckt. Ab und zu wackelte sie mit ihren bloßen Füßen, deren Sohlen
nicht ganz sauber waren, als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch fest an
ihren Knöcheln hingen. Spätestens um elf Uhr hatte ich herausgefunden, dass Pete
ein Problem war, «auch wenn ich ihn liebe». Lola hatte von meinem Ehefiasko erfahren,
und ein oder zwei Tränen waren unsere Nasen hinuntergelaufen. Wir hatten auch über
unsere «Problemfälle» gelacht, laut über den ihnen gemeinsamen Hang zu riechenden
Socken gegluckst, die, besonders im Winter, von irgendeiner unbekannten männlichen
Absonderung steif wurden. Das Mädchen hatte ein gutes Lachen, tief und überraschend,
das von irgendwo unterhalb der Lunge zu kommen schien, und eine direkte Art zu sprechen,
die mich entzückte. Kein indirekter Diskurs, keine Kierkegaard'schen Ironien für
diese Tochter Minnesotas. «Ich wünschte, ich wüsste, was du weißt», sagte sie irgendwann.
«Ich hätte fleißiger lernen sollen. Jetzt, mit den Kindern, habe ich keine Zeit
mehr.» Darauf murmelte ich irgendeine Binsenweisheit, aber eigentlich war der Inhalt
unseres Gesprächs an jenem Abend von geringer Bedeutung. Wichtig war, dass zwischen
uns ein Bündnis, eine empfundene Kameradschaft entstanden war, von der wir beide
hofften, sie möge weitergehen. Das Unausgesprochene führte an jenem Abend Regie.
Als wir uns trennten, umarmten wir uns, und in einem vom Alkohol verstärkten Anfall
von Zuneigung nahm ich ihr rundes Gesicht in die Hände und dankte ihr von Herzen
für alles.
    Die Vergänglichkeit
menschlicher Gefühle ist nichts weniger als lachhaft. Bei meinen schwankenden Launen
im Verlauf eines einzigen Abends fühlte ich mich, als hätte ich einen Charakter
aus Kaugummi. Ich war in die hässlichen Untiefen des Selbstmitleids gefallen, eine
Region nur knapp oberhalb der noch abscheulicheren Niederungen der Verzweiflung.
Gleich danach hatte ich mich, leicht ablenkbare Gans, die ich bin, auf Gipfeln
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