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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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zugeschlagen.
    Wir diskutierten
kurz über die Enthemmung, die manchmal bei Demenz auftritt. Doch meine Mutter beharrte
darauf, dass der Mann «geistig völlig gesund» sei, nur der Rest von ihm müsse im
Zaum gehalten werden. Dann setzte sie der Oscar-Busley-Geschichte die Robert-Springer-Story
entgegen. Sie hatte in St. Paul an einem Dinner teilgenommen und Springer, einen
alten Bekannten meines Vaters aus der Juristerei, getroffen, «ein großer, gut aussehender
Mann» mit «schönem, vollem Haar», der mit seiner Gattin Mrs. Springer da war. Diese
völlig gewaltlose Begegnung bestand aus einem Händedruck, der mit einem bedeutsamen
Blick einherging. Inzwischen hatte sich meine Mutter, nachdem die Rückenmassage
vorbei war, in einem Sessel niedergelassen und saß mir gegenüber. Gleichsam zur
Eröffnung drehte sie beide Handflächen nach oben. «Er hielt sie zu lange fest, verstehst
du, nur ein kleines bisschen länger, als es sich gehört.»
    «Und?», sagte
ich.
    «Ich bin fast
ohnmächtig geworden. Sein Händedruck ging mir durch und durch. Ich bekam weiche
Knie. Mia, es war herrlich.» Ja, dachte ich, die elektrisch aufgeladene Luft.
     
    ... heb deine Finger weiß
    Und zieh mich aus, berühr mich leis,
    Leis am ganzen Leib.
     
    D. H. Lawrence
in meinem Kopf. Berühr mich leis.
    Das schmale,
faltige Gesicht meiner Mutter sah nachdenklich aus. Ihr und mein Geist bewegten
sich auf parallelen Wegen. Sie sagte: «Ich mache es mir zum Prinzip, meine Freundinnen
zu berühren, weißt du, ein Tätscheln, eine Umarmung. Es ist ein Problem. An einem
solchen Ort bekommen viele Leute nicht genug Berührung.»
    Die Mädchen
waren nicht gut aufgelegt. Es mochte am Wetter liegen. Drinnen war es kühl, aber
draußen war der Tag schwül, Sumpfwetter. Alice sah besonders schlapp aus, und ihre
großen braunen Augen hatten eine wässrige Glasur. Als ich sie fragte, ob es ihr
nicht gutgehe, sagte sie, ihre Allergien würden sie plagen. Sie schnatterten über
Facebook, und es fielen die Namen von Jungen: Andrew, Sean, Brandon, Dylan, Zack.
Ich hörte mehrmals den Satz «später im Schwimmbad», «Bikinis» und jede Menge Geflüster
und Getuschel. Über die prickelnde Aussicht hinaus, Mitglieder des anderen Geschlechts
zu treffen, herrschte zwischen ihnen jedoch noch eine zusätzliche Spannung, die
nicht ohne Erregung war, aber diese Aufgedrehtheit hatte etwas Unterdrücktes, Gehässiges,
was ich so sicher spürte wie die Feuchtigkeit außerhalb des Raums. Besonders Nikki
schien völlig daneben zu sein. Sie konnte sich nicht bremsen, bei jeder sich bietenden
Gelegenheit albern zu grinsen. Jessies blassblaue Augen waren schwer vor Bedeutsamkeit,
und einmal formte sie an Emma gerichtet lautlos ein Wort, aber ich konnte es ihr
nicht von den Lippen ablesen. Peyton legte wiederholt den Kopf auf den Tisch, als
litte sie an einem plötzlichen Anfall von Schlafsucht. Obwohl Ashleys Miene unergründlich
war, hatte ihre stets gerade Haltung etwas zusätzlich Starres, und sie trug binnen
einer Stunde dreimal Lipgloss auf ihren ohnehin schon glänzenden Mund auf. Auch
Emma schien von irgendeinem unbekannten, nur halb unterdrückten Scherz abgelenkt.
Ich hatte den starken Eindruck, dass unter alldem ein Text eingeschrieben war,
aber ich schaute auf ein so vielfach beschriebenes Palimpsest, dass nichts lesbar
war.
    Während des
Unterrichts musste ich meine Verärgerung verbergen. Nikkis rundliches Gesicht mit
dem glitzernden Lidschatten und der dicken Wimperntusche, das mir zwei Tage zuvor
noch so gut gelaunt vorgekommen war, sah jetzt nur noch dämlich aus. Joans kaum
sichtbares Grienen und gleichartiges Make-up fielen mir eher auf die Nerven, als
dass sie mich amüsierten. Während sie ihre Gedichte über Farbe schrieben, musste
ich mir vor Augen führen, dass einige der Mädchen noch keine dreizehn waren - dass
ihre Selbstkontrolle begrenzt war und dass der ganze Kurs scheitern würde, wenn
ich mich von ihnen abschrecken ließ. Ich wusste auch, dass meine Überempfindlichkeit
für die atmosphärischen Zwischentöne um den Tisch herum, zusammen mit meiner eigenen
traurigen Erfahrung in ihrem Alter, meine Wahrnehmung leicht verzerren konnte. Wie
oft hatte Boris gesagt: «Mia, du bläst das viel zu sehr auf», und wie oft hatte
ich mich dann mit einem schlaffen Ballon zwischen den Lippen gesehen, in den ich
hineinblies, worauf er zu einer dicken Birne oder einem langen Wiener Würstchen
anschwoll und sich so von einem Ding in ein anderes

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