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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Pete
sprechen. Ich fragte sie nach dem Krach, aber sie sagte, ihre Streitereien seien
dumm, es gehe immer um nichts, nichts Wichtiges, und sie habe es satt, habe Pete
satt, sich selbst, manchmal sogar die Kinder. Ich sagte sehr wenig. Ich wusste,
dass ich vorläufig nur der Hallraum war, der Ort, wo man Worte deponiert, keine
wirkliche Gesprächspartnerin. Und dann, ohne irgendeinen Übergang, begann sie zu
erzählen, dass sie drei Jahre lang, nachdem sie als Kind in die Krippe gekommen
war, kein Wort gesprochen habe. «Zu Hause habe ich geredet, mit meinen Eltern, meinen
Brüdern, aber sonst habe ich nie was gesagt, zu niemand.
    Ich erinnere
mich an nicht viel aus der Vorschule, aber ein bisschen an den Kindergarten. Ich
erinnere mich, wie Mrs. Fordermeyer sich über mich beugte. Ihr Gesicht war wirklich
groß und nah. Und sie fragte mich, warum ich nicht antwortete. Sie sagte, das sei
unhöflich. Das wusste ich. Ich wollte ihr sagen, dass sie es nicht verstand. Ich
konnte einfach nicht.» Lola sah ihre Hände an. «Meine Mom sagt, dass ich irgendwann
in der ersten Schulklasse anfing zu flüstern. Sie war überglücklich. Ihre Kleine
hatte geflüstert. Und dann wurde ich wohl ganz allmählich lauter, nehm ich an.»
    Nachdem sich
Lola neben ihre Kinder ins Bett gekuschelt hatte, setzte ich mich auf die Kante
und streichelte etwa zwanzig Minuten lang ihren Kopf. Sie ist nur zwei Jahre älter
als Daisy, sagte ich mir. Ich dachte an Lola, das stille kleine Mädchen, das in
der Schule nicht sprechen konnte. Die Angst, an einem Ort zu sprechen, der nicht
zu Hause ist, der außerhalb ist, fremd. Sie hat einen Namen, wie so viele Dinge,
selektiver Mutismus, nicht ungewöhnlich bei kleinen Kindern. Dann dachte ich an
eine junge Frau, die mit mir im Krankenhaus gelegen hatte, und versuchte, mich an
ihren Namen zu erinnern, aber er fiel mir nicht ein. Auch sie hatte nicht gesprochen,
kein Wort. Dünn, weißhäutig und blond, hatte sie mich an eine schwindsüchtige Wiedergängerin
aus der Romantik erinnert. Ich sah sie steif und vornübergebeugt, das lange bleiche
Haar wie einen Vorhang vors Gesicht gezogen, den Korridor auf und ab wandeln; sie
hatte eine Plastikkanne dabei, die sie sich ganz dicht an den Mund hielt, sodass
sie hineinspucken konnte, wenn sie, manchmal lautlos, manchmal laut, Speichelklumpen
aus der Lunge hervorwürgte, worüber die anderen Patienten kicherten. Einmal hatte
ich sie im Gemeinschaftsraum hinter ein Sofa huschen, sich niederkauern, aus dem
Blickfeld verschwinden sehen, und kurz darauf hörte ich, wie sie sich mit einem
heiseren Röhren in die Kanne erbrach. Das Innere nach außen. Lass das Äußere nicht
herein. Verschließ mich wie eine Auster. Schließe meine Augen. Mach den Mund zu.
Verrammele die Türen. Lass die Rollläden herunter. Lass mich in meinem wortlosen
Allerheiligsten, in meiner Festung des Wahnsinns in Ruhe. Das arme Mädchen, wo
war es jetzt?
    Ich fand ein
Plätzchen neben Flora und schlief am Ende trotz des Schlummerland-Konzerts meiner
Übernachtungsgäste ein: des Pfeifens des verstopften kleinen Simon, Floras Kaugeräuschen,
wenn sie ihren Zeigefinger lutschte und mampfte, Lolas ruhelosen Gemurmels und einzigen
gesprochenen Worts. Mehrmals sagte sie mit leiser, hoher Stimme: «Nein.» Obwohl
ich mit ihnen im Bett blieb, schweiften meine Gedanken wie gewohnt zu Boris und
Sidney und zu der Pause und dem ausgesetzten Sextagebuch. Ich dachte daran, über
die unzähligen Träume zu schreiben, aus denen ich im vollen, zügellosen Orgasmus
aufgewacht war, oder vielleicht über F. G., den ich den Graser genannt hatte, weil
er ein Knabberer und Kauer war, der meinen Körper hinauf- und hinunterwanderte,
als wäre er ein köstliches grünes Feld. Dann gönnte ich mir einige Minuten äußerster
Gereiztheit über die biogenetische Phantasie, dass es möglich sei, den Prozentsatz
des Einflusses von Genen im Gegensatz zu Umwelteinflüssen auf den Menschen präzise
zu berechnen, und begann im Kopf eine vernichtende Kritik zu schreiben, aber das
Letzte, woran ich mich erinnere und was mich erheblich besänftigte, war die R ückkehr zu traherne und seinem
Gedicht «Schatten im Wasser», das ich mir nur Stunden zuvor mehrmals laut vorgelesen
hatte. Zurückgerufen wurde es, glaube ich, durch ein müßiges Grübeln über Moki
und darüber, ob er wohl unsichtbar zwischen uns lag, der starke, wilde kleine Junge
mit langem Haar, der nur langsam flog, nach dem väterlichen Ausbruch aber Trost
brauchte

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