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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Geisteszustand sie war. Regina hatte sie nicht hereingelassen. Nicht
nur das, sie hatte behauptet, die Tür mit Möbeln verbarrikadiert zu haben, als Schutz
gegen Feinde, besonders Westerberg. Als meine Mutter dies berichtete, schüttelte
sie traurig den Kopf. Ich konnte ihr das nachempfinden. Wenn die Paranoia kommt,
führt es zu nichts, dem Paranoiker zu sagen, seine Angst sei unbegründet. Das konnte
ich verstehen. Auch mein Gehirn hatte einen Sprung bekommen. Und daher war meine
Mutter, nachdem sie versucht hatte, ihre unvernünftige Freundin zur Vernunft zu
bringen, zur Pflegerin geeilt, um sie über die Vorkommnisse in Zimmer 2706 zu unterrichten,
und der medizinische Stab, einschließlich des diabolischen Dr. Westerberg, war
gerufen, die Tür geöffnet und das Mobiliar beiseitegeschoben worden, worauf auch
Regina selbst in ein Krankenhaus in Minneapolis abgeschoben wurde, um sich «Tests»
zu unterziehen.
    Als meine Mutter
mit dieser Geschichte zu Ende war, schien sie direkt durch mich hindurchzusehen.
Sie sah traurig aus. Traurigkeit stellte anscheinend uns allen nach. Ich saß neben
ihr und nahm ihre Hand, sagte aber nichts.
    «Ich glaube
nicht, dass sie zurückkommt», sagte meine Mutter. «Hierher sowieso nicht.»
    Ich drückte
ihre dünnen Finger, und sie drückte zurück. Durch das Fenster sah ich ein Rotkehlchen
auf einer Bank im Garten landen.
    «Sie hatte
Mumm», sagte meine Mutter. Mir fiel auf, dass sie die Vergangenheitsform benutzte.
    Noch ein Rotkehlchen.
Ein Paar.
    Meine Mutter
begann von Harry zu sprechen. Alle Verluste führten zu Harry zurück. Sie hatte schon
oft von ihm gesprochen, aber dieses Mal sagte sie: «Ich wüsste gern, was aus mir
geworden wäre, wenn Harry nicht gestorben wäre. Ich wüsste gern, wie anders ich
geworden wäre.» Sie erzählte mir, was ich schon wusste, dass sie nach dem Tod ihres
Bruders beschlossen habe, ihren Eltern ein perfektes Kind zu sein, ihnen nie wieder
Kummer zu bereiten, und dass sie sich die größte Mühe gegeben, es aber nicht funktioniert
habe. Und dann sagte sie kaum hörbar etwas, was sie noch nie gesagt hatte: «Manchmal
habe ich mich gefragt, ob sie sich nicht wünschten, ich wäre es gewesen.»
    «Mama», sagte
ich scharf.
    Sie beachtete
das nicht und redete weiter. Sie träume noch immer von Harry, sagte sie, und es
seien nicht immer schöne Träume. Manchmal fand sie seine Leiche irgendwo in der
Wohnung hinter einem Bücherregal oder einem Stuhl und konnte nicht verstehen, warum
er nicht in seinem Grab in Boston lag. Einmal war ihr Vater ihr im Traum erschienen
und hatte wissen wollen, was sie mit Harry gemacht habe. Als Bea und ich klein waren,
sagte sie, habe sie phasenweise furchtbare Angst gehabt, dass wir ihr durch etwas
genommen würden, eine Krankheit oder einen Unfall. «Ich wollte euch vor jedweder
Verletzung bewahren. Das will ich immer noch, aber es klappt nicht, oder?»
    «Nein», sagte
ich. «Tut es nicht.»
    Die Melancholie
meiner Mutter hielt jedoch nicht an. Ich erzählte ihr, dass Boris sich gemeldet
hatte, was sie gleichermaßen erfreute wie bekümmerte, und wir wägten mehrere mögliche
Ausgänge ab und besprachen, was ich von meinem Mann wollte, und ich merkte, dass
ich es nicht genau wusste, und wir gingen über zu Daisys Leben als Schauspielerin
und wie prekär das alles war, aber wie verdammt gut die Kleine doch war, und dann
rief Bea an, während ich noch dort war, und ich hörte meine Mutter über irgendeinen
Witz von Bea lachen, und beim Abendessen lachte sie noch einmal schallend über
einen von mir. Als wir uns verabschiedeten, umarmte sie mich fest, und ich spürte,
dass ihr Trübsinn von zuvor verflogen war, natürlich nicht für immer, aber für den
Abend. Der zwölfjährige Harry würde immer da sein, das Gespenst aus Mamas Kindheit,
eine Hohlform für die Hoffnungen ihrer Eltern und für ihr Schuldgefühl, dass sie
am Leben geblieben war. Ich stellte mir meine sechsjährige Mutter vor, wie ich sie
auf einem alten Foto gesehen hatte. Sie hat rotes Haar. Obwohl man die Farbe in
Schwarzweiß gar nicht sehen kann, füge ich im Geiste das Rot hinzu. Die kleine Laura
steht neben Harry, einen Kopf kleiner als er. Beide tragen weiße Matrosenanzüge
mit Navy-Bordüre. Keins der beiden Kinder lächelt, aber es ist das Gesicht meiner
Mutter, das mich interessiert. Zufällig ist sie diejenige, die nach vorn in die
Zukunft blickt.
    Unten, ohne
Kommentar, ein durch die rasende Technologie des 21. Jahrhunderts

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