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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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werdender Wolken
durchzogen. Ich öffnete die Tür und trat auf den Rasen und in die heiße Sommerluft
hinaus, und ich hörte Simon heulen, dann die Haustür zuschlagen. Ich sah einen rennenden
Schatten, Pete, hörte die Autotür zuknallen, die Zündung, den sich drehenden Motor
und das Rutschen der Reifen, als der Toyota Corolla die leere Straße hinunterraste
und dann scharf nach links abbog, vermutlich Richtung Stadt. Dann sah ich, vom Fenster
eingerahmt, Lola mit Simon ins Wohnzimmer kommen, ihr Kopf war über das Kind gebeugt,
das sie in den Armen wiegte, während Flora wie eine Schlafwandlerin hinter ihnen
hertappte. Sie waren alle unversehrt.
    Ein paar Minuten
lang regte ich mich nicht. Ich stand barfuß im warmen Gras und war unermesslich
traurig. Mit einem Mal taten mir die Menschen allesamt leid, als wäre ich plötzlich
in den Himmel versetzt worden und sähe wie irgendeine allwissende Erzählerin in
einem Roman des 19. Jahrhunderts auf das Schauspiel der makelbehafteten Menschheit
hinunter und wünschte, die Dinge könnten anders sein, nicht ganz und gar anders,
aber anders genug, um einigen von uns hier und da ein wenig Leid zu ersparen. Das
war ja ein bescheidener Wunsch, nicht irgendeine utopische Phantasie, sondern der
Wunsch einer vernünftigen Erzählerin, die ihr rotes Haupt mit seinen grauen Strähnen
schüttelt und tief trauert, trauert, weil es richtig ist, die endlose Wiederholung
von Gemeinheit und Gewalt und Kleinlichkeit und Schmerz zu betrauern. Und so stand
ich da und trauerte, bis die Tür aufging und meine drei Nachbarn heraustraten und
über den Rasen kamen, und ich nahm sie auf.
    In Wirklichkeit
waren sie zu viert, denn Flora hatte Moki dabei. Während sie, nur in ihrer Cinderella-Unterhose,
über das Gras auf mich zuging, redete sie auf ihn ein, sagte, dass alles okay sei,
dass er sich keine Sorgen machen, nicht weinen müsse, dass alles in Ordnung kommen
werde. Das Kind tätschelte und küsste die Luft neben sich, und als wir im Haus waren,
lief es zum Sofa, rollte sich in der Fötusstellung ein und kniff die Augen fest
zu. Ich bemerkte, dass Flora nicht ihre Perücke trug. Ich setzte mich neben sie,
winkte Lola zu einem Sessel und beobachtete, wie sie sich mit seltsam ausdruckslosem
Gesicht darauf niederließ, als wäre sie eine alte Frau mit schlimmen Gelenken. Sie
schien keine Tränen vergossen zu haben - ihre Wangen waren trocken, das Weiß ihrer
Augen nicht gerötet -, aber ihre Brust hob und senkte sich beim Atmen, wie bei jemandem,
der gerannt ist. Ich legte die Hand sanft auf Floras Rücken. Sie öffnete ihr sichtbares
Auge, musterte mich und sagte: «Du bist grün.»
    Meine Hand
schnellte an mein Gesicht, als mir das Schönheitsprodukt einfiel. Ich stürmte hinaus,
um es zu entfernen, kam wieder zurück und bemerkte, dass Lola vor allem erschöpft
aussah. Sie trug einen dünnen Morgenmantel aus irgendeinem Kunststoff mit Paisleymuster,
der am Hals aufgegangen war, sodass man viel von ihrer rechten Brust sah. Das blonde
Haar hing ihr in unordentlichen Büscheln über die Augen, aber sie machte keine
Anstalten, den Morgenmantel zu ordnen oder das Haar wegzuschieben. Sie war schlaff,
zu keiner Anstrengung imstande. Simon quengelte, während er seinen Schädel gegen
den Arm seiner Mutter drückte, aber sie reagierte nicht. Ich nahm das Baby, begann
auf und ab zu gehen und wiegte es ein bisschen dabei. Ohne sich zu mir umzudrehen,
sagte Lola mit vor Entschiedenheit scharfer Stimme: «Ich gehe heute Abend nicht
zurück. Ich will nicht da sein, wenn er nach Hause kommt. Nicht heute Abend.» Ich
bot ihnen mein Bett an, worauf sie sagte: «Wir können ja alle vier drin schlafen.
Es ist doch ein breites Doppelbett, oder?»
    Wir schliefen
tatsächlich darin, alle vier oder fünf, je nachdem, wie man zählte. Nachdem ich
Lola zwei Whiskeys aus dem Schnapsvorrat der Burdas eingeflößt hatte, wiegte ich
Simon in den Schlaf und legte ihn ins Bett, eine dicke Kugel von einem Säugling
in einem blauen Strampler, die laut atmete, wobei die winzigen Lippen sich automatisch
vorstülpten und einsaugten. Ich holte eine kleine Wolldecke hervor, die ich weggeräumt
hatte, wickelte ihn darin ein, um ihn vor der klimatisierten Luft zu schützen, und
trug dann die bewusstlose Flora herein, die einmal aufschnarchte, als ich die Decke
über sie zog, aber sie drehte sich schnell zur Seite und fiel in tiefen Schlaf.
Danach saßen Lola und ich noch eine Weile zusammen. Sie wollte nicht über

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