Hyänen

Wasser wuchs Schilf, aber es war vertrocknet und tot und rasselte wie Gebeine, wenn der Wind hindurchfuhr. Das Ufer war von Gerippen bedeckt, die auf unheimliche Weise phosphoreszierend schimmerten. Sie knirschten unter seinen Füßen. Ihm war bewusst, dass der See vollkommen tot war. Kein noch so kleiner Fisch, keine Kaulquappe und keine Alge lebte darin. Er wusste auch, dass er den See überqueren musste, weil in der Wüste, aus der er kam, jemand nach ihm suchte. Jemand, gegen den er hilflos war.
    Er ging durch das rasselnde Schilf. Der Boden war sumpfig und saugte an seinen Füßen, und das Wasser war so warm wie Blut. Das Licht des Mondes lag wie ein Laken über dem See, er watete hindurch. Das Wasser reichte ihm bis zu den Knien, dann zu den Oberschenkeln. Bald verdunkelte sich das Licht. Der Mond verschwand. Die Finsternis vertilgte ihn. Dann reichte das Wasser bis zu seinen Schultern, und die letzte schmale Sichel des Monds war fort; seine Füße fanden keinen Grund mehr. Wassertretend blickte er um sich, nichts war zu sehen. See, Himmel und Wüste hatten sich zu einer einzigen, überwältigenden Dunkelheit vereinigt.
    Seine Augäpfel zuckten wild hin und her; in dem heruntergekommenen Motel am Ufer des Meeres lag Gray und träumte.

Donnerstag
    G ina wachte auf. Ihr Herz pochte nach einem bösen Traum. Sie hatten sie und Luke gefunden. Hatten die Tür eingetreten, ihre Waffen flammten auf und dröhnten –
    Im Bett neben ihr lag der schlafende Luke, unter ihrem Kopfkissen fühlte sie die kalte Härte der Glock.
    Sie machte Licht, stand auf und rüttelte ihn an der Schulter.
    «Luke! Wach auf!»
    Er bekam kaum die Augen auf und sah sie an wie einen Folterknecht.
    «Was ist denn los?»
    «Steh auf. Zieh dich an. Wir fahren weiter.»
    Er sah zur Uhr auf dem Nachttisch.
    «Mom – es ist mitten in der Nacht –»
    «Mach schon!»
     
    Als er sah, dass sich das kleine blaue Auto wieder in Bewegung gesetzt hatte, war er nicht besonders überrascht. In seinem Leben hatte er schon viele Menschen gejagt, und sie benahmen sich oft unvorhersehbar. Was nicht unbedingt hieß, dass sie sich irrational verhielten. Wenn keiner weiß, was du als Nächstes tust, bist du schwieriger zu erwischen.
    Er war nur noch wenige Kilometer von ihr entfernt. Auf einer vollkommen geraden und flachen Straße, auf der keine anderen Autos fuhren, hätte er wahrscheinlich ihre Rücklichter sehen können. Er raste an dem Hotel vorbei, in dem sie geschlafen, und an dem Burger King, in dem sie gegessen hatten. Wenn er sie erreichte, würde er etwas zurückfallen und abwarten. Einen Zigarillo rauchen und sie beobachten. Wenn sie das nächste Mal von der Schnellstraße abfuhren, wäre er direkt hinter ihnen, und wenn sie ihn entdeckten, würde es zu spät sein. Als wäre er ein Raubtier im Dschungel. Auf lautlosen Pfoten. Er hoffte nur, das alles würde bald vorbei sein, denn er war müde und fühlte sich elend. Ihm war speiübel. Vielleicht eine Fleischvergiftung. Die Tacos in Winslow.
    Dann blieb die Anzeige auf dem Monitor wieder hängen. Flackerte und verschwand.
Die Anwendung MobileTracker reagiert nicht, Vorgang beendet.
Wahrscheinlich würde sich der MobileTracker irgendwann zurückmelden, aber es war besser, schnell in Sichtweite zu kommen. Er gab Gas.
     
    Während die Lichter von Barstow verblassten, saß Luke neben ihr und fühlte sich mies. Dann brach er das Schweigen.
    «Ich muss auf die Toilette.»
    «Oh, Luke, warum bist du denn nicht gegangen, bevor wir losgefahren sind?»
    Er stöhnte und presste die Hände auf seinen Körper. «Es ist dringend, Mom.»
    «Okay. Halt noch ein bisschen durch.»
    Bald tauchte eine Tankstelle aus der kalten Dunkelheit auf. Sie blinkte und verließ die Interstate  15 . Zwei Minuten später schoss ein Geländewagen vorbei, er fuhr beinahe hundertsechzig Stundenkilometer. Er schlängelte sich zwischen den wenigen Autos hindurch, die um diese Zeit noch unterwegs waren. Einmal meinte er, den Honda erkannt zu haben, aber am Steuer saß ein alter Mann. Als er ihn überholte, sah der Mann zu ihm herüber, und obwohl ter Horst nicht dazu neigte, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, war ihm, als schaue er Gevatter Tod ins Gesicht. Ein Schädel mit Augäpfeln.
    Im Rückspiegel sah er Blaulicht. Er fluchte, blinkte und wechselte auf die rechte Spur, bremste und ließ den Wagen auf dem Seitenstreifen ausrollen. Der Wagen der California Highway Patrol blieb die ganze Zeit hinter ihm.
    Er öffnete das