Hyänen
schlief schlecht. Gelegentlich spuckte er Blut. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme, und es gefiel Mei Ling, wenn er ihr während der Englischstunden, die er ihr gab, seine Lieblingswerke der Literatur vorlas. Als er das Ende von «Romeo und Julia» erreicht hatte, versagte vor Rührung seine Stimme, denn Aldersey und Mei Ling waren in seinen Augen ebenfalls ein dem Tod geweihtes Paar.
Er wollte längst nach England zurück, denn er liebte das Land und vermisste seine Familie. Allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, was seine Familie dazu sagen würde, wenn er ein kaum geschlechtsreifes chinesisches Mädchen mitbrachte. Wenn er sie heiratete, würden sie ihn verstoßen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Familie zu verlieren, doch Mei Ling zu verlieren schien ihm ebenso unerträglich.
Das Schicksal löste schließlich sein Problem. Eines Morgens brach ein Schwall Blut aus seinem Mund hervor, und vor den Augen seiner entsetzten Schüler stürzte er zu Boden. Zwei Tage später starb er im Shanghai General Hospital. Das weinende chinesische Kind mit dem dicken Bauch hatten die strengen Krankenschwestern fortgeschickt. Als sie erfuhr, dass Aldersey gestorben war, ging sie zum Whangpu-Fluss, um sich hineinzustürzen. Aber dann wurde auch sie von einem Schwall überwältigt, als die Fruchtblase platzte und sie auf dem matschigen Ufer Mr. Lis Großvater zur Welt brachte. Wie Aldersey hatte er blaue Augen.
Mei Ling überlebte Hungersnöte, Überschwemmungen, Erdbeben, Seuchen, Kriege und Revolutionen. Nach und nach schrumpfte sie zu einem knochigen Buckelweib zusammen, dem ein paar Strähnen weiße Haare an der Stirn klebten. Sie starb, kurz nachdem Mr. Li geboren wurde.
Seufzend blickte Mr. Li auf den Bildschirm und bewegte die Maus. Irgendwo auf der Welt gab es immer etwas zu tun. Der Auftrag der Familie Cicala erwies sich als ziemlich verzwickt. Manchmal erforderten die einfachsten Dinge den größten Aufwand. Aber letztlich waren auch sie vergänglich wie alles Menschliche. So flüchtig wie der Duft einer Blume in einem Garten während der Dämmerung oder wie der Dampf einer Teetasse.
Der Hund weckte ihn durch sein Bellen. Er stand auf, zog die Jeans über und nahm die Glock vom Nachttisch.
Von seinem Schlafzimmer ging er den Flur entlang in den Clubraum.
Der Schlittenhund stand vor der Glaswand, bellte, bellte und bellte.
Gray ging durch den dunklen Saal zu ihm.
«Was ist denn da, alter Bursche?»
Er sah hinaus zum leeren Pool. Zu den Kakteen und Palmen. Alles lag in Ruhe und Frieden. Mit Ausnahme des Hunds.
«Was ist denn hier los?»
Das war Gina. Zusammen mit Luke war sie hereingekommen. Beide zerzaust und benommen vom Schlaf.
«Weiß nicht», sagte Gray. «Irgendwas hat den Hund verrückt gemacht.»
«Oh Gott», sagte Gina, «meinst du, sie haben uns gefunden?»
«Das sind die Kojoten!», sagte Luke.
«Hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten», sagte Gray. «Ich drehe zur Sicherheit mal ’ne Runde.»
«Darf ich mitkommen?», fragte Luke.
«Nein, du bleibst bei deiner Mom.»
«Sei vorsichtig!», rief Gina.
Er schob die Glastür zur Seite, der Hund stürmte hinaus und bellte noch immer wie verrückt. Als er am Pool vorbeirannte, rief Gray: «Bleib stehen, Bursche!» Gray wollte nicht, dass der Hund sich mit den Kojoten anlegte. Ein normaler magerer und verlotterter Kojote brauchte nur Sekunden, um einen dreimal so großen Hund zu töten.
Der Hund wartete auf ihn, und zusammen gingen sie weiter, an den Palmen vorbei. Gray hielt die Pistole schussbereit. Der Kiesweg knirschte sanft unter seinen bloßen Füßen. Der Hund bellte wieder, dann sah Gray, was los war: Ein dickes Stinktier watschelte mit erhobenem Schwanz durch ein ausgetrocknetes Flussbett davon.
Gray lächelte. Ging halb in die Knie, rubbelte die Reste, die von den Ohren des Hundes noch übrig waren, und gab ihm einen Kuss auf seine vernarbte Schnauze.
«Guter Junge! Was für ein Wachhund!»
Der Hund schien zu grinsen, als er das Lob entgegennahm. Seine Zunge hing ihm aus dem Maul, und er japste glücklich. Als er Anstalten machte, dem Stinktier zu folgen, zog Gray einmal kräftig am Halsband. «Hör besser auf, solange du noch kannst, Kumpel.»
Gray wusste, er sollte jetzt eigentlich zum Haus zurückgehen. Gina und Luke machten sich Sorgen. Aber der Ausblick hier am Rand der Wüste hatte ihn in seinen Bann gezogen. Die Ruinen des Golfplatzes erstreckten sich vor ihm wie eine Mondlandschaft.
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