Hybrid
dunklen Tropfen auszumachen versuchte, die immer seltener zu sehen waren. Bald hatte ich mich mehrere hundert Meter vorgewagt. Hinter mir konnte ich die Lichter des Camps am Ende der Schneise sehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in der Ferne die sichere Geborgenheit, die Räume, die anderen, mein Bett zu wissen. Der fast übermächtige Drang, kehrtzumachen und zurückzurennen, überkam mich. Aber nun hörte ich den Gesang zu meiner Linken aus dem Wald kommen, und nur wenige Meter weiter zweigte ein Trampelpfad ab. Ich wusste, dass er zu einer Lichtung führte. Dort hatte es einmal einige Felder gegeben, die aber seit Jahren brachlagen. Die Indios wollten dort nicht mehr arbeiten und mieden die Lichtung. Inzwischen hatte der Urwald begonnen, sie wieder in Besitz zu nehmen, und auch der Weg war schon fast wieder Teil der Umgebung geworden.
Ich meinte, einen Lichtschein zwischen den Bäumen zu erkennen, und wagte mich den Trampelpfad entlang. Ich näherte mich dem Gesang, und bald konnte ich das Leuchten immer häufiger aufblitzen sehen. Ich dachte schon nicht mehr an die Dunkelheit, die mich umgab, meine Aufmerksamkeit war allein auf das gerichtet, dem ich mich näherte. Der Gesang wandelte sich, ich konnte nun Wörter heraushören, allerdings blieben sie unverständlich. Es war weder das unbeholfen artikulierte brasilianische Portugiesisch der Einheimischen, noch waren es irgendwelche Wörter aus ihrer Indiosprache, die ich jemals zuvor schon einmal gehört hätte. Die Laute waren guttural und vollkommen fremdartig.
Ich erreichte den Rand der Lichtung und blieb im Schutz der Bäume stehen. Was ich sah, erregte und schockierte mich gleichermaßen.
Auf der Lichtung brannte ein fast mannshoher hölzerner Stapel. Die Flammen züngelten hoch hinauf, sandten einen beständigen Strom von tanzenden Funken in den Himmel, und in den Flammen erkannte ich die unförmige Fleischmasse, die einmal eine menschliche Leiche gewesen war. Die Haut bildete Blasen, wo sie noch nicht schwarz verkohlt war, die Rippen stachen wie geschälte Äste heraus, und Säfte rannen aus dem Kadaver, tropften über das Holz und fingen Feuer.
Ich kann mir nicht erklären, wie ich diese Details aus meinem Versteck erkennen konnte, aber mein Blick wurde mit unvorstellbarer Gewalt angezogen, bohrte sich gleichsam in den Scheiterhaufen, als stünde ich direkt daneben.
Hinter dem Scheiterhaufen, erhellt durch die lodernden Flammen, stand ein alter Indio, den ich noch nie zuvor im Camp gesehen hatte. Gesicht und Körper waren weiß bemalt, und außer einer Kette und einer mit Federn besetzten Kopfbedeckung war er nackt. Sein Kopf war in den Nacken geneigt, seine verdrehten oder blinden Augen offenbarten nur das Weiße. Er schwenkte einen Stab und ein anderes Utensil, von dem ich annahm, dass es der Fuß oder die Klaue eines Tieres war. Er war es, der den beschwörenden Gesang ausstieß.
Neben ihm, ebenfalls weiß bemalt und vollkommen nackt, standen Dr. Paulsen und die Leiterin unseres Camps, Susan.
Fabrikgelände bei Hamburg, 22. Juli
»Es wundert mich ja, dass dein Freund uns das Boot noch ein zweites Mal ausleiht«, sagte Juli.
Sie standen an derselben Stelle, von der aus sie am Tag zuvor auf die Insel übergesetzt waren. Es war elf Uhr und dunkel genug, um ungesehen zu fahren. Es würden ihnen rund vier Stunden bleiben, um sich umzusehen, bevor die Wasserschutzpolizei ihre Kontrollfahrt unternahm.
»Es ist nur eine Frage des Geldes«, sagte Tom.
»Du hast ihn dafür bezahlt? War es teuer?«
»Nicht der Rede wert. Das kann ich mir als Spesen zurückholen. Immerhin ist das hier eine Auftragsarbeit der Zeitung.«
»Ich dachte, du recherchierst das hier auf eigene Faust.«
»Im Grunde ja. Aber der Chefredakteur war so interessiert an der Geschichte mit dem Fuß, dass er mir den Auftrag gegeben hat, über das zu schreiben, was ich ohnehin vorhatte. Das hat so seine Annehmlichkeiten.«
Juli zuckte mit den Schultern. »Also dann … Hast du alles dabei?«
Tom deutete auf die Utensilien, die er bei sich trug. »Rucksack, Taschenlampen, Knicklichter, Bolzenschneider und ein Brecheisen. Und deine Pflaster.«
»Pflaster?«
»Den Erste-Hilfe-Koffer aus dem Auto. Wolltest du doch unbedingt.«
»Ja, wollte ich. Man weiß nie, was einem zustößt. Du hast doch gesehen, was das für ein Gelände ist.«
»Wenn du meinst. Ich hoffe mal, dass wir das nicht brauchen werden.«
Sie passten einen günstigen Moment ab und fuhren los.
»Hast du in den
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