Hybrid
möglicherweise tot war. Aber diese Frau hatte ihren Bruder bereits vor einem Jahr verloren. Sie hatte lange mit diesem Gedanken gekämpft und sich ihm ergeben. Es war verständlich, wenn sie sich nicht auf eine vielleicht bösartig trügerische Hoffnung einlassen wollte, um nicht erneut daran zu zerbrechen. Aber der Sinn für Gerechtigkeit mochte sie vielleicht aufrütteln. »Wenn hier ein Unrecht geschehen ist, müssen wir etwas unternehmen. Schon aus Verpflichtung unseren Geschwistern gegenüber.«
Die Frau schluckte und atmete tief ein.
»Ja«, sagte sie. Dann stand sie auf. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen seine Zimmer.«
Sie folgten ihr durch das Haus in den ersten Stock.
»Das hier ist sein Schlafzimmer«, erklärte sie, »und das hier das Arbeitszimmer. Ein ziemliches Durcheinander. Aber er kommt damit zurecht. Oder kam …«
Der Raum sah aus wie eine typische Studentenbehausung, in der sich bis zum nächsten Umzug einfach alles ansammelte. Der Schreibtisch war mit Büchern und Papieren überhäuft, auf dem Boden türmten sich Zeitschriften und Unterlagen, und die Regale quollen auf dieselbe Weise über.
»Vielleicht finden Sie etwas, das Ihnen weiterhilft«, sagte die Frau. »Ich werde wieder nach unten gehen. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach.« Dann ging sie und überließ Tom und Juli sich selbst.
»Also gut«, meinte Tom. »Dann schauen wir mal, ob wir irgendetwas finden, das uns einen Hinweis gibt.«
Während Juli die Unterlagen auf dem Boden und auf dem Schreibtisch sichtete, sah sich Tom die Regale an. Neben wissenschaftlichen Zeitschriften, die Oliver offenbar im Abonnement bezogen hatte, fanden sich allerlei medizinische Fachbücher, aber auch Bildbände und Romane. Tom bemerkte eine gewisse thematische Ordnung in den verschiedenen Fächern. So beschäftigten sich die Romane häufig mit denselben Ländern wie die daneben liegenden Bildbände und die Reiseliteratur. Oliver hatte sich für vielerlei Kulturen und Anthropologie interessiert. Das Regal mit der umfangreichsten Sammlung enthielt allerdings Bücher und Hefte, die Mythologie, Sagen und Märchen zum Thema hatten. Auch viele religiöse Texte waren dabei. War Oliver ein religiöser Mensch gewesen? War er auf einer Sinnsuche gewesen?
Toms Überlegungen wurden kurz darauf zerstreut, als er feststellte, in welchem Zusammenhang diese Bücher hier aufbewahrt wurden. Neben dem MythologieBereich befanden sich pseudowissenschaftliche Sachbücher über Kryptozoologie, Abenteuerromane über verlorene Kontinente und unbekannte Tierarten, Jules Verne, Arthur Conan Doyle. Dann folgte Literatur über Schöpfungsmythen und Sachbücher, die den Kreationismus vertraten, Romane über wissenschaftliche Experimente, Frankenstein , Jurassic Park , und schließlich medizinische Artikel und Abhandlungen über Gentechnologie und Xenotransplantation. Tom, der den Begriff noch nie gehört hatte, blätterte hindurch und verstand, dass es sich um die Transplantation von tierischem Gewebe oder Organen in Menschen drehte. In allem ging es um Chimären und Hybriden, um Mischwesen aus Mensch und Tier, zum Teil aus dem Altertum überliefert, zum Teil in Romanen verarbeitet und zum Teil als tatsächliches Arbeitsgebiet in der modernen Forschung.
»Ich denke, ich habe etwas«, wandte er sich an Juli.
Sie drehte sich um und hielt ein Ringbuch in der Hand. »Ich auch«, gab sie zurück.
»Was ist das?«
»Ein Notizbuch. Er hat noch einige andere davon, aber dieses hier ist nicht ganz voll, und ich denke, das war das aktuellste.«
»Und was schreibt er?«
»Hier sind haufenweise Zeichnungen drin. Komische Monster und daneben Beschriftungen und Beschreibungen, so als hätte er sich das selbst ausgedacht. Er schien eine lebhafte Fantasie zu haben.«
»Vielleicht hat er nicht fantasiert«, sagte Tom, »sondern er hat davon gelesen und versucht, sich ein Bild zu machen.« Er deutete auf das Regal. »Dort drüben stehen haufenweise solche Bücher. Mythologie und Kryptozoologie. Möglich, dass er sich als Forscher sah, der den Kern von Legenden wie dem Monster von Loch Ness und diesem Dinosaurier im Kongo auf die Spur kommen wollte.«
»Er schreibt hier von einem Wesen, das man überall in Lateinamerika kennt. Chupacabra wird es genannt.« Sie las eine Passage aus dem Notizbuch vor:
Der Chupacabra ist als Legende nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Mittel- und Südamerika bekannt. Er überfällt normalerweise kleine Tiere wie Schafe oder Ziegen und tötet sie
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