Hybrid
wie sie befürchtet hatte. »Ist er … verschollen?«
»Ja, das ist er.«
Tom beobachtete, wie die Frau den Blick senkte und sich die Falten in ihrem Gesicht noch tiefer eingruben. Es waren Falten der Trauer, wie er jetzt erkannte.
»Das tut mir aufrichtig leid«, sagte Juli und beugte sich vor. »Der Verlust eines geliebten Menschen ist furchtbar, umso schlimmer, wenn man nichts Sicheres über den Verbleib weiß.« Sie machte eine Pause. »Ich weiß, was Sie fühlen. Mir geht es nämlich genauso.«
Die Frau sah mit einer langsamen Bewegung auf.
»Meine Schwester ist ebenfalls verschollen«, erklärte Juli. »Und zwar ebendort, im selben Camp. Seit mehreren Wochen gibt es keine Spur von ihr.«
Julis Stimme war leiser geworden.
Tom spürte die Bedrückung im Raum und fühlte sich gezwungen, etwas zu sagen. »Wir sind gekommen, weil wir der Sache auf den Grund gehen wollen«, erklärte er. »Vielleicht können wir Ihnen helfen, und vielleicht können Sie uns helfen.«
»Wissen Sie denn etwas?«, fragte die Frau.
»Nein«, erklärte Juli mit sanfter Stimme. »Aber wir sind fest entschlossen, es herauszufinden.« Sie setzte sich aufrecht. »Sehen Sie, meine Schwester hat mir viele Briefe aus Brasilien geschrieben. Aus diesen Briefen wissen wir auch von Oliver, denn man hat ihr von ihm erzählt. Offenbar gab es damals einen Vorfall. Etwas wurde vom Fluss angespült, und daraufhin erst hat sich Ihr Bruder entschieden, eine Expedition zu unternehmen. Wir vermuten, dass etwas seine Aufmerksamkeit erregt hat, und wir wüssten gerne, womit er sich beschäftigt hat. Hat er Ihnen auch geschrieben? Oder Ihren Eltern?«
»Unsere Eltern sind schon vor einigen Jahren gestorben«, erklärte die Frau. »Daher haben wir dieses Haus gemeinsam bewohnt. Es ist ja groß genug, und solange er noch Student war, war es die beste Lösung.«
»Aber Sie beide standen in Kontakt?«
»Nicht sonderlich, nein. Er ist eher ein verschlossener Typ und betrachtet das Haus als eine WG , in der man ungestört nebeneinanderher leben konnte. Nein, geschrieben hat er nicht. Wir haben ein- oder zweimal telefoniert, aber das war Wochen vor seinem Verschwinden.«
»Hat er dabei irgendetwas erwähnt oder einen merkwürdigen Eindruck gemacht?«, fragte Tom.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Ich sollte ihm Geld überweisen und ein Vorlesungsverzeichnis von der Universität besorgen. Solche Sachen.«
»Womit hat er sich denn neben der Medizin sonst noch beschäftigt?«, fragte Tom. »Vielleicht gibt uns das einen Hinweis darauf, was ihn angetrieben hat, plötzlich loszuziehen.«
»Ich wusste nicht, dass es einen besonderen Anlass gegeben hatte. Mir sagte man nur, dass er eines Morgens losmarschiert sei. Und scheinbar fühlte sich keiner im Camp für ihn verantwortlich. Angeblich war man zwar zwei Wochen später flussaufwärts unterwegs gewesen, hatte dabei aber keine Spuren von ihm gefunden. Sie wollten ihn nicht als vermisst melden, weil er sich regelrecht abgemeldet und auch nichts davon gesagt hatte, dass er zurückkehren wollte. Also ist man wohl davon ausgegangen, dass er über den Fluss oder auf anderem Weg allein zurück nach Manaus gezogen ist.«
»In den Briefen, die ich von meiner Schwester erhalten habe«, erklärte Juli, »stand, dass er sich für Mythologie interessierte. Und als die Dorfbewohner nach dem Fund dieser Sachen anfingen, von Walddämonen zu sprechen, ist er aufgebrochen.«
»Was waren das für Funde?«
Juli sah Tom an. Sie hatte vermeiden wollen, die grausigen Details zu beschreiben, um die Frau nicht zu beunruhigen. Aber Tom nickte nur.
»Es waren Leichenteile«, sagte sie schließlich.
Die Frau schwieg, aber ihre Augen weiteten sich.
»Deswegen möchten wir unbedingt herausfinden, was in dem Dorf vor sich geht«, sagte Tom.
»Ich will nicht glauben, dass meine Schwester und Ihr Bruder einfach verunglückt sind«, fügte Juli hinzu. »Wenn dort etwas nicht mit rechten Dingen vor sich geht, müssen wir es aufdecken.«
»Vielleicht war Ihr Bruder auf einer Spur, die uns weiterhelfen kann«, sagte Tom.
»Er war nie besonders kommunikativ, aber sich ein Jahr lang nicht zu melden, das ist überhaupt nicht seine Art. Es muss ihm etwas zugestoßen sein. Ich habe schon vor Monaten von ihm Abschied genommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht erlauben, dass Sie mir Hoffnungen machen.«
»Ich verstehe das«, sagte Juli behutsam. Sie selbst wollte nicht glauben, dass ihre Schwester
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