Hymne an Die Nacht
die Augen, bevor sie sich über das Set beugte. Das hatte diesmal weniger mit einer Konzentrationsübung zu tun, sie hatte schlicht Angst vor dem, was sie zu sehen bekäme. Sie war eine sehr begabte Hexe, die sich bisher nie erlaubt hatte, persönliche Gefühle einzubringen, wo es um ihre Kundschaft ging.
Bei Stanislaws Tochter war das zum ersten Mal anders. Sie hatte das Mädchen vom ersten Moment an liebgewonnen, eine Regung, die bei ihr eigentlich nicht vorgesehen war, weder in ihren beruflichen Angelegenheiten noch sonst. Als sie Joanna begegnet war, hatte sie ihre innere Stärke gespürt, aber ebenso ihre Verletzlichkeit, und schon bevor sie ihre Handinnenflächen betrachtet hatte oder wie jetzt die Karten befragte, war ihr klar gewesen, welch schweren Weg diese junge Frau vor sich hatte.
Denn sie würde jetzt im vollen Bewusstsein zwischen diesen beiden Welten wandern müssen, gezeugt von einem Vampir und doch durch ihre sterbliche Mutter ein Kind der Menschen. Sie gehörte nicht zur dunklen Welt der Nachtgestalten, auch wenn sie immer wieder mit Kräften konfrontiert wurde, die ihr fremd und unheimlich erschienen und die doch zugleich ein Teil von ihr waren.
Ewa tauchte jetzt tief in die Welt der Karten ein, und was sie sah, wühlte sie dermaßen auf, dass sie sich ein großes Glas Rotwein einschenkte. Ja, es war gekommen, wie sie es befürchtet hatte: Vadim, dieser Ignorant, der an nichts glaubte, was er nicht sehen und »beweisen« konnte, hatte es vermasselt. Bei Joanna verhielt es sich anders. Ein Moment der Unachtsamkeit, mutwillig oder unbewusst herbeigeführt, hatte zwar alles verändert, doch damit war auch der Moment der Wahrheit heraufbeschworen worden, der irgendwann ohnehin gekommen wäre.
Arme Kleine, wie sollte sie damit fertig werden, dass sie Vadims Liebe verloren hatte, weil sie sich als die zu erkennen gegeben hatte, die sie in Wahrheit war? Sie war dafür nicht gewappnet, und da würde ihr auch das väterliche Erbe nichts nützen. Einen Moment lang überlegte sie, sich diesen Vadim mal richtig vorzunehmen, aber das widersprach dem Kodex ihrer Hexenzunft, in dem die Regeln genau festgeschrieben waren. Und gerade in diesem Fall durfte sie dem Schicksal nicht vorgreifen.
Bevor sie das Set zusammenlegte, fiel ihr Blick auf eine Karte am äußeren Ende, die sie bisher übersehen hatte. Sie zog sie aus dem ausgebreiteten Fächer und betrachtete sie eingehend, obwohl sie deren Bedeutung gut kannte. Dann nickte sie und trank langsam ihren Wein aus.
Dreißig
Cornel war beunruhigt. Er hatte Vadim im Hotel abgeholt, obwohl er noch lange nicht mit seinem Anruf gerechnet hatte. Sonst ließ der Junior sich Zeit an der Bar und ging nie, bevor er nicht einige Drinks zu sich genommen hatte, doch an diesem Tag war alles anders. Vadims Stimme am Telefon hatte ungewohnt angespannt geklungen, und als er jetzt auf dem Beifahrersitz Platz nahm, wirkte er geradezu aufgewühlt.
»Was ist los, Vadim?« Cornel wartete, bevor er den Wagen anließ.
Vadim berichtete ihm von der Begegnung mit dem Russen. »… und dann dieses diabolische Grinsen, als er sich unbeobachtet gefühlt hat«, fügte er zum Schluss hinzu. »Glaub mir, Cornel, der Kerl lügt, er kennt Joanna aus Marbella, und wenn meine Intuition mich nicht vollständig trügt, ist er ihretwegen hier.«
Cornel betrachtete ihn skeptisch. »Aber warum? Worum geht es dabei? Was hat ein russischer Geschäftsmann mit jemand wie Joanna zu tun? Zwischen den beiden liegen doch Welten.«
»Eben«, stieß Vadim zwischen den Zähnen hervor. »Und dennoch muss es da eine Verbindung geben. Außerdem: findest du es nicht auch seltsam, dass Stanislaw so plötzlich aufgetaucht ist, um seine Tochter abzuholen?«
»Was ist seltsam daran, dass ein Vater seiner Tochter beistehen will, nachdem ihr Geliebter sie verstoßen hat? Sie wird ihn angerufen haben, und dann ist er gleich gekommen.«
Doch Vadim ließ den Einwand nicht gelten. »Ich glaube, sie ist in Gefahr.«
Cornel atmete tief durch. Die Launen seines Arbeitgebers stellten ihn manchmal auf eine harte Probe, aber diesmal ging ihm das zu weit.
»Wenn ich es recht verstehe, sprichst du von der Frau, die du gestern vor die Tür gesetzt hast, richtig?«
»Richtig«, erwiderte Vadim in bitterem Ton.
»Was soll dann dieses Gerede von der Gefahr, in der sie angeblich schwebt?«
Und jetzt erzählte Vadim ihm alles, die Begegnung mit Joanna in seinem Arbeitszimmer, die unbegreifliche, unfassbare Wahrheit, mit der sie
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