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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Madsack
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das wirklich wissen willst«, erwiderte sie, und unvermittelt stieg etwas so Bitteres in ihr auf, dass sie den Geschmack fast auf der Zunge zu spüren glaubte.
    »Joanna, versteh doch«, sagte er in ungewohnt bittendem Ton, »ich wurde vor sehr langer Zeit gegen meinen Willen zu dem gemacht, was ich heute bin, ich habe mir dieses Schicksal nicht ausgesucht. Gib nicht mir die Schuld an dem, was dir hier widerfahren ist, versuch es zumindest!«
    »Aber du hast meine Mutter geschwängert«, stieß sie heftig hervor, »du hast ein Zwitterkind in die Welt gesetzt, das jetzt dafür büßen muss.«
    Ihr war klar, wie sehr sie ihn mit ihren Worten verletzte, aber sie wusste nicht mehr wohin mit ihrem eigenen Schmerz. Seine Gesichtszüge hatten sich verschlossen, und er antwortete nicht, bis er ganz vorsichtig die Hand nach ihr ausstreckte. Sie zögerte, dann zog sie seine Hand zu sich heran und drückte sie gegen ihre Wange.
    »Was uns die Liebe antut, vermag nur die Zeit zu lindern, und manchmal hilft auch das nicht wirklich«, sagte er sanft.
    »Daphne liebt dich, obwohl sie weiß, wer du bist«, flüsterte Joanna.
    »Ja, diese Frau weiß, dass sie jemanden liebt, der auch ein Monster sein kann, und das ist für mich noch immer ein Mysterium. Sie ist ein Gottesgeschenk, und das ausgerechnet für eine Kreatur wie mich. Vielleicht aber auch ein Fluch. Denn im Gegensatz zu mir wird sie altern. Irgendwann wird sie nicht mehr bei mir sein und in einem kalten Grab liegen, und ich werde nichts dagegen tun können.«
    »Wie kannst du diesen Gedanken ertragen?«
    »Indem ich dankbar bin für die Zeit, die uns bleibt. Aber lass uns wieder von dir sprechen, Joanna. Du bist eben kein Monster, dich zu lieben ist nicht schwer. Und wenn dieser Dummkopf nicht begreift, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wen man liebt, sondern darauf, dass man überhaupt jemanden lieben kann, dann ist ihm nicht zu helfen und dann kann ich nur hoffen, dass du ihn sehr schnell vergisst.«
    Joannas Kehle wurde eng, sie begriff, dass Stanislaw mit jedem seiner Worte recht hatte.
    Ihr fiel auf, dass er wiederholt in den Rückspiegel sah, doch da war nichts, sie waren allein auf dieser verschneiten Straße. Nur einmal kam ihnen ein Traktor entgegen, und Stanislaw hielt an, um ihn vorbeizulassen.
    Nachdem sie erneut durch Dörfer gefahren waren, in denen es kein Anzeichen von Leben gab, begann sich die Landschaft zu verändern, die Gebirgsketten am Horizont zeichneten sich in immer raueren Formationen ab, und Joanna kam es vor, als sei die Temperatur um einige Grade gesunken. Sie wollte etwas sagen, unterließ es aber nach einem Seitenblick auf ihren Vater, dessen Gesichtszüge jetzt einer unbeweglichen Maske glichen.
    Er schaltete die Sitzheizung ein. »Gleich wird es besser«, sagte er nach einer Weile. »Dort, wo wir bald sein werden, ist es richtig kalt, und deshalb solltest du dich jetzt noch einmal gut aufwärmen. Aber ich habe auch ein paar Decken dabei, für alle Fälle.«
    Die Dunkelheit senkte sich immer tiefer über das matte Weiß der winterlichen Landschaft. Joanna fröstelte trotz der angenehmen Wärme, die von der Sitzheizung ausging.
    »Du musst dich nicht fürchten«, Stanislaws Stimme klang wie von weit her, »ich möchte dir nur etwas zeigen, das du kennen solltest. Ich bin bei dir und beschütze dich. Danach werden wir diesen Ort für immer verlassen.«
    Welchen Ort?, wollte sie flüstern, aber da sah sie es schon. Eine Burg aus sehr lange vergangenen Zeiten hob sich wie ein etwas unscharfer Scherenschnitt gegen den Abendhimmel ab, verwunschen und spukhaft in ihrem fortgeschrittenen Verfall.
    Stanislaw fuhr auf das große Eingangstor zu, und Joanna erstarrte.
    »Ich möchte da nicht hin«, bat sie ihn, und ihre Stimme bekam etwas Flehendes, »das ist ein Ort des Unheils, ich spüre es ganz deutlich.«
    »Ich weiß«, erwiderte er unbeirrt, »aber es muss sein. Ich möchte dir nur etwas erklären, und danach wirst du vieles verstehen. Sei nicht so ein Hasenfuß, schließlich bist du meine Tochter!«
    Er fuhr weiter und hielt vor dem mannshohen Eisentor an, von dem nur noch eine Seite schief in den Angeln hing und mit leisem Scheppern im Wind hin und her schaukelte.
    »Komm«, sagte er, und in diesem Wort lag etwas Unerbittliches. Er ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und streckte Joanna die Hand entgegen. Widerstrebend stieg sie aus. Sie zuckte zusammen, als der eisige Abendwind wie ein Messer durch ihren Körper schnitt.

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