Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)
zum wiederholten Male seine aufrichtige Verwunderung über die Weisheit Gottes und startete in Richtung Bahnhof. Am Bahnhof lud Sawa sich Iwan auf die Schultern, Grischa griff nach Iwans Tasche, Vater Lukitsch ging vorneweg. – Den nehm ich nicht mit, – sagte die Schaffnerin, nachdem sie Iwan gesehen hatte, – der saut mir hier nur alles voll. – Vater Lukitsch versuchte, die Schaffnerin einzuschüchtern und fing an, über die sieben Todsünden und ihre mögliche Exkommunizierung zu sprechen, aber überraschend stellte sich heraus, daß die Schaffnerin evangelisch war und sich deshalb weigerte, mit Vater Lukitsch überhaupt auch nur zu reden. – Was sollen wir tun? – fragte Sawa sich selbst. – Hört mal, liebe Gemeinde, – sprach der Pope zu ihnen, – dieser Zug geht doch über Wuslowa oder? – Na und? – Sawa verstand nicht. – Wann ist er dort? – So in drei Stunden, – antwortete Sawa. – Dann bringen wir ihn dorthin, wahrlich ich sage euch – bis Wuslowa geht’s ihm besser. Wir laden ihn ein, und mit Gottes Hilfe fährt er ans Meer. – Da lobten alle Gott und fuhren nach Wuslowa.
In Wuslowa ließen sie Iwan im BMW sitzen und gingen zum Bahnhofsimbiß. Im Imbiß kriegte sich Grischa mit ein paar Bahnarbeitern in die Wolle. Die Bahnarbeiter schmissen Grischa raus und wollten ihn fertigmachen, da aber holteVater Lukitsch das Kreuz aus dem Revers seines Tweedjacketts, und die Bahnarbeiter zogen sich enttäuscht in den Imbiß zurück. Aber bestimmt nicht für lange, also besser Leine ziehen. Die Brüder kehrten zum BMW zurück und warfen einen Blick hinein. Iwan war aufgewacht, schaute aus dem Fenster und versuchte zu kapieren, wo er war. Also, folgendes, Iwan, – erklärte ihm Sawa kurz angebunden, – hier ist deine Fahrkarte, der Zug kommt in einer Stunde, Gleis 1, Wagen 20, bring nichts durcheinander und schlaf nicht auf den Schienen ein, klar? – Iwan nickte. – Also, wir müssen los, – sagte Sawa und setzte sich neben Vater Lukitsch, – Sammelbestellungen, Dumpingrabatte, du weißt schon, – Vater Lukitsch drängte nervös zur Eile, Grischa versteckte sich im Fond und verriegelte die Tür von innen. – Wenn du die Fracht bringst, – rief Sawa schon im Wegfahren, – kaufen wir dir einen Scooter! – Iwan nahm seine Tasche, blieb eine Weile auf dem leeren Bahnhofsplatz stehen und ging dann auf die goldenen Lichter des Bahnhofsimbiß zu.
Um drei Uhr nachts herrscht Stille in den Maisfeldern und den Verwaltungsgebäuden, und am Nachthimmel scheint die nächtliche Sonne – kalt und unsichtbar, so kalt, daß man glauben könnte, der Himmel sei leer und es gäbe gar nichts darin, genau wie in den Maisfeldern und den Gebäuden; da aber, nach ungefähr fünfzehn Minuten, kommt er aus der Finsternis ins Licht der Semaphoren gekrochen – der Geisterzug, ein langer, geschmeidiger Drache aus Kinderalpträumen, ein Monster, das kleine Chinesen und von der Kulturrevolution erschöpfte Rote Garden im Schlaf aufsucht, es schlängelt sich vom Porzellangeschirr, das in den nationalisiertenFabriken des roten China bemalt wurde, und dringt in ihre nächtlichen Phantasien; seufzt schwer und stößt durch die Nase blauen Rauch aus, wenn es aus dem Maisfeld in den stillen und leeren Bahnhof springt, es zuckt noch einmal mit all seinen Porzellanmuskeln und erstarrt, nur für einen Moment, denn der Zug hält hier nur zwei Minuten; Iwan steht am Bahnsteig, Tasche in der einen Hand, Ticket in der anderen, und weiß, daß er es in diesen zwei Minuten nicht bis zum Wagen dritter Klasse Nummer 20 schafft, der sich ganz am Ende des Zuges befindet, dafür müßte er das Bahnhofsgebäude und die Lindenallee entlanglaufen, unter der kalten nächtlichen Sonne, die jetzt direkt über seinem Kopf steht, das schafft er nie, den nächtlichen Halt hat man sich nur ausgedacht, damit man für einen Moment aus dem Drachenbauch herausspringen kann, in das schläfrige, hallende Bahnhofsgebäude laufen, am Kiosk Numero Zwei eine Flasche warmen Wodka kaufen und, nachdem man auf den schon fahrenden Zug wieder aufgesprungen ist, die Linden und den Mais für immer hinter sich lassen kann. Deswegen schaut Iwan noch einmal auf seine Fahrkarte und steigt in den ersten Waggon, der Zug stößt einen zornigen Drachenpfiff aus und setzt sich kriechend in Bewegung, in Richtung Nacht, die zwanzig Meter weiter beginnt und irgendwo im Donbass endet.
Er steigt in den ersten Waggon und geht vorwärts, also eigentlich rückwärts, gegen die
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