Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)
Fahrtrichtung, gegen die allgemeine Bewegung der Finsternis, geht in entgegengesetzte Richtung, entgegen dem Uhrzeigersinn, stoppt seinen inneren Zeitmesser, der sowieso nicht richtig funktioniert, dreht ihn vom ersten Waggon zum zwanzigsten zurück undwittert dabei die Lüfte und Düfte der Nacht, die er in den zwanzig Waggons erleben wird. Er versteckte sich vor zwei Schaffnerinnen, die heimlich Leichen von einem Abteil ins andere zerrten, ging weiter und tauchte ein in den unendlich süßen Tunnel der Dritte-Klasse-Dämmerung. Im Waggon roch es nach Kohle und Gewürzen, der Geruch kochenden Teewassers mischte sich hinein, und je länger er in den mit Atem gefüllten Korridoren stand, desto mehr Gerüche konnte er unterscheiden, hervorheben und für sich benennen, jeden einzelnen – den Geruch der Schaffnerinnen, die nach Kirschtee und gefärbtem Haar rochen, den Geruch der Soldaten, die nach Rasierwasser und Sperma rochen, den Geruch der Huren, die nach dem Rasierwasser und dem Sperma der Soldaten rochen, den Geruch der Zigeunerkinder, die nach Muttermilch und Anascha rochen und ihre Finger und Lippen nach dem herbem Shit aus Cherson, mit dem sie ihre warmen Tonpfeifen stopften; er unterschied den Geruch einer Gruppe von Invaliden, die zu einem Gastspiel ins Bergbaurevier fuhren und nach Lederbörsen und Ringen aus gefälschtem Silber rochen, in all das mischte sich der Geruch von Goldzähnen, Holzprothesen, warmen Äpfeln, Obstschnaps, gestrigen Zeitungen, Soldatendecken, der dikke und bittere Geruch Dutzender Soldatendecken, der von Waggon zu Waggon floß, vom ersten
in den zweiten, wo es nach Kirchenkalendern vom Vorjahr in den Taschen der Angehörigen der Zunft der Taubstummen roch, die schon seit Monaten in diesem Zug festsaßen, es roch nach gezinkten Karten in den Jacken der Zocker, die ans Meer die Saison eröffnen fuhren, es roch nach den warmen Kopien in den Mappen der OSZE -Delegierten, dieein Hüttenwerk schließen fuhren, es roch nach dem billigen Schmuck der Mädchen einer weiteren großen Zigeunerfamilie, die den halben Waggon plus Tambur besetzt hielt, und er folgte diesem Geruch und kam
in den dritten Waggon, erkannte den Geruch der Prägefolie auf den Ikonen, den Geruch von hölzernen Rosenkränzen in den Händen der Seminaristen, von denen einer gerade warmen Wodka vom Kiosk Numero Zwei geholt hatte, den Geruch neuer, gefälschter Pässe, den Geruch von Münzen und warmer Schokolade, den Geruch des Adrenalins, den zwei Dealer absonderten, die Stoff holen fuhren, den Geruch von Kinderspielzeug, gepanschtem Kognak, verchromtem Stahl, Kupfergeschirr, frischen Schnittwunden, von mit Zucker gemischtem Speichel, in Alkohol getränkten Magengeschwüren, von über das Gesicht verschmierten Tränen, den Geruch von Frauenhaut, Schritt für Schritt, von Waggon
zu Waggon, Frauenhaut, die nach Muttermalen und Narben riecht, nach Venen und Tätowierungen, Haut, die nach Atem riecht und nach der Stimme, mit der man zu ihr gesprochen hat, Frauenhaut, die nach Wachs und Stoff, Tabak und Honig riecht, nach trockenem Wein und vergilbten Laken, dieser Geruch drang in die Falten der Kleidung und fraß sich in die Nähte der Dämmerung,
und auch im fünften Waggon spürte er ihn noch, erkannte aber gleichzeitig immer ätzendere und bizarrere Gerüche, zum Beispiel den Geruch eines Serienmörders, nach dem man in den westlichen Regionen des Landes schon lange suchte, den Geruch von Illustrierten, den Geruch von Schulkreide,den Geruch von Brot frühmorgens im Laden, den Geruch von Universitätshörsälen, den Geruch von Umhängekreuzen, Armbändern, Büstenhaltern, Fernsehgeräten, den Geruch von Flußwasser, den Geruch des eigenen Schweißes, den Geruch der Handschuhe einer alten Bekannten, die sie irgendwann hatte liegenlassen und die er ihr nie zurückzugeben wagte, den Geruch des Geldes, süßer, aufregender Geruch der Kohle, Geruch alter Banknoten, der herbsaure, schwere und intensive Geruch der Geldscheine, der Geruch des Geldes, der dem Geruch des Lebens ähnelt, dem Geruch des Flußwassers und Herbstdunstes, so riecht der erste Lippenstift, so riecht der Alk, den du morgens auskotzt, so riecht die Luft, die dich umgibt, dann öffnete er die Tür und betrat
den sechsten Waggon, wo Pfadfinder saßen und wo der Geruch von Zelttuch und Zuckerwatte, von Filmen in Fotoapparaten und von verschüttetem Benzin stand, der Geruch von Asche, zerrissenem Papier, von Gras auf der Kleidung, der Geruch von Petting, von
Weitere Kostenlose Bücher