Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)
Kiosken, Motoröl, von dickflüssigem unendlichem Leim, Leim, der zwischen den Fingern zerfließt, sich im Dunkeln abkühlt, die Waggons überflutet und bis an die Gurgel steigt, weißer dickflüssiger Leim, aus dem er sich zu befreien versucht, er zieht ihn an wie eine lebenslängliche Last, sein Leim, mit seinem Geruch, seiner Last und Leichtigkeit, direkt
in den siebten Waggon, in dem Vietnamesen fuhren und intensiv nach italienischen Altkleidern rochen, nach Gips für Renovierungsarbeiten und warmen Gerichten, die sie mitgenommen hatten auf die unendliche Reise durch die östlichen Regionen, und ihre Sprache roch nach Oktoberschnee undErde, in die schon lange niemand mehr etwas gepflanzt hat, deswegen schwiegen sie auch meist, behielten ihren Geruch und ihre Sprache für sich, und in dieser Stille erstarrte er für einen Augenblick zwischen den Waggons, schöpfte aber dann neue Kraft und setzte seinen Weg fort,
in den achten Waggon, in dem es nach den Kleidern fremder Leute roch, nach Friseur, Asphalt, Vögeln auf dem Fensterbrett, gebrochenen Schlüsselbeinen, aufgeschnittenen Handgelenken, zertrümmerten Schädeln, nach unter die Tischplatte geklebtem Kaugummi, Damenbinden und Portwein, nach Sex und warmem Augustschlamm, nach Regenwasser, das in die auf der Veranda zurückgelassenen Tassen und Teller tropft, nach Sand, der dir durch die Finger rinnt, Sand, der in deine Schuhe dringt, vom Wind aufgewirbelt wird, sich in deinen Haaren festsetzt und zwischen deinen Zähnen knirscht, nach ausgetrocknetem totem Sand, getrocknet wie die Abzüge von Fotografien, der Geruch von Staub auf ihren überall verstreuten Kleidern,
im neunten Waggon roch es nach Pfeffer und Möbeln, es roch nach ihrer alten Wohnung, aus der sie ausgezogen waren, als er sieben war, es roch wie ein altes Uhrwerk, von dem du die Spinnweben bläst und das du wieder in Gang zu bringen versuchst, aber alte Uhren sind fast geruchlos, sie verlieren ihren Geruch gleichzeitig mit ihrem Rhythmusgefühl, tote Sachen riechen ganz verschieden, tote Haut riecht nach ihrer Vergangenheit, totes Leben riecht auf eine besondere Weise nach dem, was danach kommt, er aber ließ diesen Geruch hinter sich und ging
in den zehnten Waggon, wo er einen Haufen bekannter Gesichter entdeckte, so bekannt, daß er sie gar nicht benennen konnte, sie wollten auch gar nicht benannt werden, er erinnerte sich, wie die Sachen seiner Bekannten rochen, ihre Schlüssel, Ausweise, Fotoalben, die Hemden in ihren Schränken, ihre Rasierklingen, Schuhbürsten, Schlachtmesser, die Waffen zur Selbstverteidigung, der Alkohol zur Selbstberuhigung, das Jod zur Selbstvernichtung, das Radio für die Wut, die Telefonhäuschen zur Wahrung von Ruhe und Ordnung, die Korkenzieher für die innere Disziplin, die Sonnenbrillen zum Schutz gegen die Sonne, die kupferfarbenen Türschilder, abgegriffenen Geländer im Treppenhaus, Briefkästen, bröckelnden Balkone, die warmen Gehsteige, Straßenbahnlinien, Schnellstraßenkreuzungen, die herbstlichen Parks, leeren Gassen, die dichte sommerliche Luft voll Regen, der noch nicht fällt,
und schon im nächsten, im elften Waggon fiel ihm plötzlich auf, daß das schon das letzte war, was er unterscheiden konnte, und weiter folgte er einem Geruch, den er noch nicht kannte und daher auch nicht wiedererkennen konnte, ein seltsames, flimmerndes Gefühl, als ginge jemand an dir vorbei, ohne eine Spur, irgendeinen Hinweis zu hinterlassen, nur dieses Gefühl, das aber genügt, damit du ihm nachgehst, in den nächsten Waggons seine Fortsetzung suchst, in der Dunkelheit, mit der sie angefüllt sind, seine zu Staub zerfallenen Reste einfängst wie die Überreste einer geschlagenen Armee, die sich in den Wäldern versteckt, ein seltsamer Geruch, den er einfach nicht benennen konnte und der ihm einfach keine Ruhe ließ, so riecht die Luft, wenn sie vergeht, die Abwesenheit von Luft riecht so, die Abwesenheit von Lebenund die Abwesenheit von Erinnerungen, vielleicht folgte er ebendiesem Geruch bis zu seinem zwanzigsten Waggon, und als er den betrat und seinen Platz suchte, ging ihm auf, daß seinen Platz schon längst ein anderer eingenommen hatte und daß das überhaupt nicht sein Zug war und er auch nicht in die richtige Richtung gegangen war, obwohl es in diesem Zug nur zwei Richtung gab – von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn, deshalb drehte er schweigend um und ging zurück, orientierte sich in der Dunkelheit an den Sternen, den Stimmen der Schaffner, den
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