Hypnose
Moment, als Annabel sich bei der Geburt mit vollem Gewicht auf Sie gestützt hat. Sie hatten vor Anstrengung die Augen geschlossen, konnten nur Annabels Parfüm riechen und was Sie als Wolltuch auf Ihrem Gesicht beschreiben, war vermutlich Annabels Pullover. Dass Annabel weggelaufen ist und Ihnen mit dem Aufzug entkommen ist, steht symbolisch für den Moment, als sie Ihnen das Baby weggenommen hat.«
Inka schüttelte eine ganze Weile irritiert den Kopf. Am schlimmsten war, dass das alles ganz einleuchtend in ihren Ohren klang. Sie sollte den körperlichen Übergriff in Erinnerung an das Geburtsszenario frei erfunden haben? Doch dann fiel ihr etwas ein, ein Gegenargument. Das würde Brinkhus davon überzeugen, dass sie es mit einem wahrhaftigen Gegner zu tun hatte.
Inka schob das weiße T-Shirt hoch und machte ihren Bauch frei, wobei sie selbst den Anblick darauf vermied. »Und wie erklären Sie sich das hier?«, stieß sie hervor.
An der Art, wie Doktor Brinkhus auf die rot verkrus teten Buchstaben starrte, sah sie, dass er beinahe seine Fasson als Therapeut verlor. »Hat sich ein Arzt das angeschaut?«
»Sogar mehrere Ärzte im Krankenhaus. Ebenso ein Rechtsmediziner. Blut und Urin wurden auch untersucht, weil ich durch eine Spritze betäubt wurde. Für den Arzt eindeutig mit Ketamin, und obwohl ich sofort ins Krankenhaus gebracht wurde, ließ sich der Wirkstoff schon nicht mehr nachweisen.«
»Das ist ungewöhnlich. Im Blut liegt die Nachweisbarkeit bei rund vierundzwanzig Stunden, im Urin noch länger. Und was sind das für rotbraune Flecken, die als Punkte auf den Buchstaben gesetzt wurden? Auf dem ö und dem i? Das sieht fast nach Verbrennungen aus.«
»So ähnlich, ja. Hervorgerufen durch ein Deospray, das man zu dicht und zu lange an eine Hautstelle hält.«
Brinkhus stutzte.
»Sind Sie Rechtshänderin?«, fragte er dann.
»Ja – warum?«
»Ich weiß, es fällt Ihnen schwer, aber schauen Sie sich die Buchstaben auf Ihrem Bauch noch einmal bitte genau an.«
Inka verdeckte ihren Bauch mit dem T-Shirt. Sie konnte es nicht. Schon allein bei der Vorstellung daran wurde ihr schlecht. Sie nahm ihr Glas und trank es in einem Zug aus.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Frau Mayer. Jeder Großbuchstabe weist von mir aus gesehen einen deutlichen Linksdrall auf. Wenn ich Ihnen mit einem Kuli beispielsweise die Buchstaben auf den Bauch schreiben würde, hätten die Striche allerdings die für Rechtshänder typische Linienführung mit einem leichten Rechtsdrall von oben rechts nach unten links. Frau Mayer, die Verletzung hat Ihnen niemand angetan . Sie haben sie sich selbst zugefügt! Das müssten auch die Ärzte im Krankenhaus, in jedem Fall aber der Rechtsmediziner, erkannt haben. Das sogenannte Ritzen oder auch die missbräuchliche Verwendung eines Deosprays ist eine häufig benutzte Methode von psychisch kranken Patienten, Schmerz zu spüren.«
»Ich … ich soll mir selbst … diese Morddrohung … eingeritzt haben?« Inka hatte den Eindruck, die Gegenstände um sie herum würden verschwimmen. »Sie wollen mir wirklich erzählen, ich hätte mich eigenhändig so zugerichtet? Und was ist mit der Einstichstelle einer Nadel an meinem Hals? Mein Kopf wurde auf die Fliesen geschlagen! Und ich habe wieder ganz deutlich eine weibliche Stimme gehört!«
Bedauernd schüttelte ihr Therapeut den Kopf. »Das gehört alles zum Programm. Wenn Sie sich an die Minuten erinnern, die dem vermeintlichen Überfall vorangingen, haben Sie wahrscheinlich einen unglaublichen inneren Gefühlsdruck verspürt, so als wäre es in Ihrem Körper plötzlich zu eng, so als ob man eine Flasche mit Mineralwasser zu lange schüttelt. Das erging Ihnen so, weil Ihre Emotionen aus irgendeinem Grund überkochten. Ein gesunder Mensch hat für solche Situationen andere Ventile. Sie hatten nur die Selbstverletzung als Möglichkeit sich auszudrücken. Ihren Hilferuf haben Sie in Spiegelschrift auf Ihren Bauch geschrieben, damit ihn jeder Außenstehende lesen kann. Es ist eine gut erreichbare Körperstelle und das Zentrum Ihrer Angst und der Platz, wo Sie Ihr Baby unter dem Herzen trugen. Eigentlich ein bewundernswerter Schachzug der menschlichen Seele, wenn ich das so sagen darf.«
»Selbstverletzung … Davon müsste ich doch wissen! Menschen, die so etwas tun, wissen davon!«
»Richtig. Normalerweise schon. Ihre Persönlichkeit hatte sich jedoch aufgespaltet.«
Inka hielt es kaum mehr in ihrem Sessel aus. Die in der letzten Stunde auf sie
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