Hypnose
…
Inka hatte das Gefühl zu ersticken und ging zum Fenst er, um es weit zu öffnen. In sich gekehrt nahm sie die Aussicht auf Stuttgart als verschwommene Silhouette von Fabrikschornsteinen, Kirchtürmen und großen Häuserblöcken wahr.
Wo war Jonas? Hatten Annabel und Jannis ihn an sich genommen und in ihrer Wohnung untergebracht? Was war in der Mordnacht dann mit ihm passiert? Und wohin war er nach Annabels Verhaftung gebracht worden? Fragen über Fragen.
Acht Minuten.
Andi hatte ihr gegenüber nie erwähnt, dass man ein Kleinkind am Tatort gefunden hatte. Es sei denn, Jonas wäre an einen anderen Ort gebracht worden, bevor die Beamten morgens eingetroffen waren. Angesichts der geplanten Auswanderung hatte Annabel bestimmt kein aufwändiges Kinderzimmer für Jonas eingerichtet oder gar die Wände blau gestrichen. In wenigen Stunden könnte man alle Spuren beseitigen, die auf ein Baby in der Wohnung hingedeutet hätten.
Zehn Minuten.
Hatte in der Tatnacht womöglich doch nicht Peters Diensthandy, sondern sein privates Handy geklingelt?
Inka horchte kurz nach, ob Schritte darauf hinwiesen, dass sie gleich dazugeholt wurde, doch als es ruhig blieb, löste sie die Tastensperre ihres Handys. Leihmutterschaft … zehntausend Euro … Jonas lebt! Am liebsten hätte sie Peter alles entgegengeschrien, aber sie wusste, sie musste sich zusammenreißen und alles daransetzen, mit ihm ein Treffen zu vereinbaren. Und dort musste sie Peter zum Reden bringen. Egal mit welchen Mitteln.
Die Mailbox sprang an.
»Du mieses Schwein!«, schrie sie die Tonbandstimme an. Aus ihrem anfänglichen Mitleid wurde Wut. Blanker Zorn. Sie stellte sich vor, wie Peter vor diesem Automaten saß, auf die bunten Bilderchen starrte und auf sein großes Glück hoffte.
Zwölf Minuten.
Verdammt, wo blieb Doktor Brinkhus? Sie stand auf und ging im Wartezimmer auf und ab.
Ich muss Rebecca anrufen , fiel ihr ein. Sie hatte versprochen, sich heute Vormittag noch bei ihr zu melden. Nach nur wenigen Ruftönen hatte sie ihre Freundin am Telefon.
»Rebecca«, flüsterte sie, »ich bin immer noch bei Brinkhus. Brunner ist ein Hochstapler und … und stell dir vor, Jonas lebt!«
»Geht es dir gut, Inka? Was redest du denn da?«
»Doch, ich sehe auf einmal alles ganz klar! Ich habe unter Hypnose die Zusammenhänge erkannt, Rebecca. Ich wurde von Annabel als Leihmutter missbraucht! Jetzt will Brinkhus aus Evelyn rauskriegen, wo Jonas ist. Wenn es jemand wissen muss, dann Evelyn. Aber das dauert so ewig. Ich warte hier schon seit fünfzehn Minuten. Dabei hat er gesagt, er würde mich nach fünf Minuten wieder in den Behandlungsraum bitten, sobald Evelyn hypnotisiert ist. Ich glaub, ich gehe jetzt da rein …«
»Inka, was redest du da alles? Warte mal, ich fahre gleich zu dir. Ich muss nur noch meinem Vater beim Anziehen helfen, wenn er gleich aus dem Bad kommt. Ich bin in gut einer halben Stunde da. Rühr dich nicht von der Stelle und warte dort auf mich!«
»Okay«, sagte Inka und legte auf. Dann schaute sie auf den Flur hinaus. Dort war es totenstill, die schallisolierte Tür zum Behandlungsraum war geschlossen.
Vierzehn Minuten.
Fünfzehn Minuten.
Sechzehn Minuten.
Siebzehn Minuten.
Ein untrügliches Gefühl sagte ihr, dass da drin etwas nicht stimmte.
Einen Moment zögerte sie noch, ob sie anklopfen sollte, aber dann entschied sie sich anders und drückte nahezu geräuschlos die Klinke nach unten.
Als Erstes sah sie Evelyns blonden Pagenkopf. Sie stand aufrecht da und starrte mit leerem Gesichtsausdruck auf den Sessel vor ihr, in dem Brinkhus saß. Sein Kopf hing seltsam schräg da, mit dem Kinn auf der Brust. Ein Unbeteiligter würde glauben, der Therapeut sei eingenickt.
Ermordet ! Inka riss entsetzt die Augen auf und schlug eine Hand vor den Mund. Einen kleinen Aufschrei konnte sie nicht unterdrücken.
Evelyn sah hoch. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
Sollte sie weglaufen? Um Hilfe schreien? Oder versuchen, Evelyn zu überwältigen? Nein, sie musste Ruhe bewahren. Denn nur so konnte Inka erfahren, wo Jonas war. Evelyn war wohl neben Peter die Einzige, die wusste, wo ihr Sohn war. Entkommen durfte ihr diese Frau jedenfalls nicht mehr.
»Hallo, Evelyn«, sagte Inka, um Fassung bemüht.
Sie reagierte nicht, sie schien unter Schock zu stehen.
Evelyns Regungslosigkeit ließ Inka mutiger werden, und sie ging langsam auf Annabels Schwester zu. Als sie bei ihrem toten Therapeuten war, sah sie eine Spritze in seinem Schoß liegen. Ihr
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