Hypnose
ertönte unten der Schrei einer Frau. Inka zuckte zusammen. War das Herta gewesen?
Hastig steckte sie die drei Pässe in ihre Gesäßtasche und schlich vorsichtig zum Treppenabsatz.
Auf den Bodenfliesen vor der Eingangstüre lag eine rote Plastikschüssel und rundherum verteilt frisch gepflückte Bohnen.
»Herrgott, warum tutet dieses Telefon nicht!«, hörte sie Herta rufen. »Lieber Heiland, steh mir bei.«
Inka lief die Stufen hinunter.
Die Haushälterin stand in hellblauem Kleid und geblümter Kittelschürze am Garderobenschränkchen und hämmerte unentwegt auf die Telefongabel, um endlich ein Freizeichen zu bekommen.
»Bitte erschrick nicht, Herta. Ich bin es, Inka.«
Doch die Haushälterin stand so unter Schock, dass sie sie gar nicht wahrnahm. »Er ist gestürzt, er braucht einen Arzt, sofort einen Arzt!«, schrie sie ins Telefon.
Inka ging auf die kleine, stämmige Frau zu und berührte sie am Oberarm.
Die Haushälterin riss den Mund auf. »Inka«, hauchte sie dann und fasste sich ans Herz. »Du?«
Wenn sie jetzt nicht aufpasste, klappte sie ihr womöglich zusammen. Schnell nahm sie Herta den Hörer aus der Hand und schob sie stützend Richtung Küche.
»Aber ich muss einen Arzt rufen!«, protestierte Herta.
»Das Telefon funktioniert im Moment nicht«, sagte Inka und drückte Herta auf die Küchenbank. Als sie ihr ein Glas Wasser hinstellte, hatte ihr Gesicht schon wieder etwas Farbe angenommen.
»Für Herrn Brunner würde leider jede Hilfe zu spät kommen«, sagte Inka.
»Was meinst du, zu spät? Ist er tot? Um Himmels willen – wäre ich nicht im Garten gewesen, hätte ich ihn rechtzeitig gefunden. Was machst du hier überhaupt, Inka? Ich habe dich ja ewig nicht gesehen … Ich darf doch du sagen?«
»Ja, ja … ich …«, stotterte Inka.
»Ach, das war also die Überraschung, von der der Doktor heute beim Frühstück gesprochen hat! Als ich ihn früh am Morgen in der Küche vorgefunden habe, war ich ganz perplex. Aber solche Entlassungen geschehen ja manchmal ganz unvermittelt. Er hatte sich sogar schon selbst Kaffee gekocht, das war mir dann ganz peinlich, weil ich mit dem Baby so lange geschlafen hatte. Ich habe ihm dann ganz schnell Frühstück gemacht, und er sagte, wir bekommen heute einen Gast. Im Schlafzimmer hätte er auch etwas vorbereitet, dort sollte ich keinesfalls hineingehen. Zum Mittag wünschte er sich sein Lieblingsessen. Rindfleisch mit Kartoffeln und Bohnen. Er wollte etwas feiern, stellte sogar noch einen Sekt kalt. Er war wirklich wieder ganz der Alte. Ich habe mich so für ihn gefreut … Und jetzt das … So ein Unglück!«, jammerte sie. »So bös ist er gefallen, dass ihn der Herrgott zu sich genommen hat. Er musste doch nicht lange leiden, oder? Was mache ich denn jetzt?« Sie schlug die Hände vors Gesicht und verharrte in dieser Haltung.
»Herta, welche Nachbarn sind im Moment zu Hause, damit wir dort ein Telefon benutzen können? Wir sollten die Polizei verständigen, dann wird alles Weitere seinen Gang gehen.«
»Warum denn das? Was ist heute bloß los? Die Polizei war vorhin schon einmal da, gerade als ich dem Baby die Flasche geben wollte. Ein Beamter wollte mir weismachen, dass Herr Brunner aus der Psychiatrie geflohen sei, aber ich habe ihm gesagt, dass das ein Irrtum sein muss, weil Doktor Brunner als gesund entlassen wurde. Ich habe ihm vorgeschlagen, hier im Haus zu warten, denn um zwölf Uhr wollte der Doktor zum Mittagessen wieder da sein. Doch er hat mir nur seine Visitenkarte gegeben und gesagt, ich solle ihn anrufen, sobald der Patient zu Hause auftauchen würde. Was für ein ausgemachter Unsinn! Entflohen! Mein Herr Doktor Brunner war immer korrekt, und er weiß doch als Psychiater selbst, wie wichtig solche Behandlungen sind.«
»Ich werde jetzt die Polizei verständigen gehen.« Inka musste den Beamten ihre Notwehr erklären. Aber egal, wie es ausging: Sie hatte einen Menschen umgebracht. Das fühlte sich so unwirklich und gleichzeitig unumstößlich an.
»Bei der ganzen Aufregung brauche ich jetzt einen Schnaps«, sagte Herta. »Möchtest du auch einen?«
»Nein, danke.« Ihr Blick streifte die Thermoskanne auf dem Küchentisch. »Aber einen Kaffee, wenn Sie noch einen haben.«
Herta nickte und holte eine Tasse aus dem Küchenschrank, für sich den Schnaps. Inka umfing mit ihren Fingern die warme Tasse und hielt sich daran fest.
Die Haushälterin kippte den Schnaps hinunter und schüttelte sich. »Das tut gut. So ein Elend aber auch
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