Hypnose
der Reihe nach auf. Bad. Die Mädchenzimmer. Ausgeblichene Poster von David Hasselhoff und Tom Cruise in Top Gun -Uniform an der Wand bei Annabel, das Bett frisch bezogen, als würde jeden Augenblick ihre Rückkehr erwartet werden. In Evelyns Zimmer stand der Schminktisch voller Utensilien, jahrzehntealte Schmin ke in abenteuerlichen Farbtönen, die seither niemand angerührt hatte. Wenn man diese Andenkenstätten sah, könnte man glauben, Brunners Töchter seien verstorben und nicht zum Studium ausgezogen und längst mit ihren Männern im Erwachsenenleben angekommen.
Die nächste Tür führte zu Hertas Zimmer. Niemand. Halt, hier hatte sich etwas verändert. Ihr Blick fiel auf den Wickeltisch und die Wiege. Es war genau die Wiege, die sie zusammen mit Annabel für Jonas ausgesucht hatte! Inka trat heran und nahm das dünne Kopfkissen heraus. Ein unbeschreiblicher Geruch stieg ihr in die Nase. So roch nur ein Baby. Ihr Baby. Sie presste das Kissen mit beiden Händen auf ihr Gesicht, um ihre Tränen aufzufangen.
»Jonas«, sagte sie tränenerstickt. »Wo bist du? Deine Mama ist da …« Jeden Winkel des Hauses würde sie durchsuchen, bis sie endlich fündig wurde.
Sie verließ das Zimmer der Haushälterin und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, als sie die letzte Tür auf dem Stockwerk öffnete. Brunners Schlafzimmer.
Drinnen war es überraschend stickig. Inka behielt die Türklinke in der Hand und stutzte. Brunners Hälfte des Doppelbettes war nicht gemacht, und auf der Matratze lagen ein großer brauner Glattlederkoffer und eine Herren handtasche. Auf der anderen Bettseite, auf der glatt ge strichenen dunklen Tagesdecke, war ein Brautkleid so drapiert, als hätte sich die Braut dorthin gelegt. Es war keinesfalls ein Kleid nach der neuesten Mode, die üppige Rüschenverzierung deutete eher auf ein Modell aus den Achtzigerjahren hin. Es könnte das Kleid sein, das Brun ners Frau Margitta zur Hochzeit tragen wollte, dachte Inka. Eine Hochzeit, die wegen Margittas plötzlichem Tod nie stattgefunden hatte.
Was hatte Brunner vorgehabt? Inka ging näher und hob den Kofferdeckel an. Männerhemden und -hosen, Damenkleidung in Farben, die heute so langsam wieder modern wurden, ein Kulturbeutel und – Babykleidung. Blaue Strampler, Jäckchen und Söckchen … Inka zog die Luft ein. An der Seite im Koffer eingeklemmt steckten längliche Blechschilder. Autokennzeichen. Inka ließ den Deckel fallen und durchwühlte die Herrenhandtasche. Sie zog einen Reisepass mit Brunners Foto heraus – unverkennbar die silbergrauen Haare mit den buschig weißen Augenbrauen und dem eindringlichen Blick. Nur stand da ein anderer Name: Doktor Friedhelm Brunner anstelle von Gottfried Brunner. Falsche Adresse, falsches Geburtsdatum. Brunners Werk, als Hochstapler auch ein Meister der Fälschungskunst.
Inka durchsuchte die restlichen Fächer und stieß auf einen zweiten Reisepass. Als sie ihn aufklappte, fiel ihr ein Papier entgegen. Sie faltete es auf. Eine mit Stempel versehene Geburtsurkunde. Leander Brunner, geboren am 22. Dezember. Eltern: Margitta Brunner und Doktor Friedhelm Brunner. Das war ja unfassbar! Der Pass zeigte das biometrische Foto einer Frau, die ihr verblüffend ähnlich sah, ausgestellt auf den Namen Margitta und mit ihrem Geburtsdatum! Das sollte ihr Pass sein! Er wollte mit ihr fliehen …
Brunner musste das alles vorbereitet haben, bevor er sich selbst zum Irren deklarierte und in die Psychiatrie einweisen ließ. Dort war er sich sicher, von seinen Töchtern regelmäßig besucht zu werden, um sie hypnotisch beeinflussen zu können. Für den Fall, dass das Experiment mit Annabel schiefgegangen wäre, hätte sicherlich niemand gegen ihn Verdacht geschöpft – nicht gegen einen alten Mann, der sich mit akuter Schizophrenie auf der geschlossenen Abteilung befand. So wurde Jannis zum Bauernopfer und Brunner gewann Selbstsicherheit bei seinem nächsten Schachzug gegen Brinkhus.
Inka wurde siedendheiß bei dem Gedanken, wie knapp sie Brunner entkommen war, und durchwühlte die Herrenhandtasche, bis sie auf einen dritten Pass stieß, einen Kinderausweis. Das Foto darin zeigte einen sechs Monate alten Jungen mit unfokussiertem Blick in Richtung Kamera. Leander Brunner. Er hatte viele dunkle Haare, als Augenfarbe war blau angegeben.
»Jonas«, flüsterte sie und strich mit dem Zeigefinger über das Bild. »Wo bist du nur?« Sie verlor sich in dem Anblick, er war so hübsch. Tränen rollten ihr über die Wangen.
Plötzlich
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