Hypnose
…«
Sie machte einen ausholenden Schritt zur Seite, wie wenn sie sich übergeben müsste, und brachte Brunner damit aus dem Gleichgewicht. Inka griff mit ihrer rechten freien Hand nach der Kehrschaufel, schnellte zu ihm herum und traf ihn seitlich am Kopf. Vor dem satten, dumpfen Geräusch erschrak sie selbst.
Brunner schrie nicht einmal mehr auf, sondern sackte einfach zusammen. Blut sickerte aus der Platzwunde an seiner Schläfe und färbte seine weißen Haare.
Inka kniete neben ihn nieder, um seinen Puls zu fühlen. Da war nichts mehr. »Neeiiin!«, rief sie völlig außer sich. Sie wollte ihn doch nicht umbringen! »Du solltest im Gefängnis vegetieren, nicht durch meine Hand sterben!«, schrie sie ihn an.
Verzweifelt überlegte sie, was sie jetzt tun sollte. Dann sprang sie auf und drehte den Haustürschlüssel herum. »Herta?«, rief sie ins Haus hinein. »Sind Sie da?«
Keine Antwort.
Inka betrat den Flur, der trotz des Sonnenlichts düster war. Zielsicher fand sie das Telefon, ein altmodisches Modell mit Wählscheibe aus ihrer Kindheit, das noch immer auf dem Garderobentischchen mit den elegant geschwungenen Füßen stand.
Inka nahm ab, um die 110 zu wählen, aber die Leitung war tot. Zitternd verfolgte sie das Kabel, um zu sehen, ob es richtig eingesteckt war, bis sie ein loses Ende in der Hand hielt. Das Kabel war sauber durchschnitten.
Mit weichen Knien machte Inka ein paar Schritte den Flur entlang über die braunen Steinfliesen, auf denen sie früher Murmeln um die Wette gerollt hatten. Der Verlierer musste eine Mutprobe absolvieren, die darin bestand, Bonbons aus der Küchenschublade zu stibitzen. Keine leichte Aufgabe, weil die Haushälterin sich fast nur in der Küche aufhielt …
Inka blickte hinein, doch von Herta keine Spur. Alles war aufgeräumt, blitzblank, und es sah aus wie vor fünfundzwanzig Jahren. Die glattweißen Küchenfronten und selbst die orangerote Thermoskanne auf dem Tisch vor der Eckbank schien die Jahrzehnte überdauert zu haben. Das gute Stück hatte am Wochenende immer von morgens an auf der Wachstischdecke gestanden, damit dem Herrn des Hauses zu jeder ihm beliebigen Zeit heißer Kaffee serviert werden konnte. An der Wand hing noch die gerahm te Fotografie, ein Bild, das Margitta Brunner in ihrem letzten Urlaub auf Kreta zeigte, mit einem deutlichen Babybauch. Sie saß auf einem Felsen, um sie herum schäumte das Meer. Mittlerweile waren die Farben unecht geworden.
»Herta?«, rief sie noch einmal in die gespenstische Stille.
Inka schlich sich ins Esszimmer, und von dort aus ins Wohnzimmer, wo sie ebenfalls die Einrichtung wiedererkannte. Der Kachelofen, die Einbauschränke aus Eiche rustikal und eine Replik des Ölgemäldes Der Mann mit dem Goldhelm über dem dunkelgrünen Sofa, wo Brunner immer seine Mittagsruhe abgehalten hatte.
Nachdem Inka auch noch Speisekammer und Gästetoilette kontrolliert hatte, wurde ihr mulmig zumute.
War Herta mit Jonas im oberen Stockwerk und hörte sie deshalb nicht rufen? Vormittags, so lange Ruhe im Haus war, hatte Herta früher immer die Betten gelüftet und die Zimmer sauber gemacht. Vielleicht hatte sie diese Angewohnheit beibehalten, auch nachdem die Mädchen längst ausgezogen waren.
Um ein Stockwerk höher zu gelangen, musste Inka durch den Flur zum Eingangsbereich zurück. Als sie den leblosen Brunner an der Haustür liegen sah, drehte sich ihr fast der Magen um. Sie hatte ihn doch nicht töten wollen! So musste auch Annabel gedacht haben, nachdem sie Jannis die Weinflasche auf den Kopf geschlagen hatte.
Plötzlich wurde sich Inka des Ausmaßes ihrer Tat bewusst. Gefängnis . Des Totschlags schuldig . Es sei denn, sie könnte dem Richter begreiflich machen, dass es sich um Notwehr gehandelt hatte. Vielleicht wäre es besser, mit Jonas zu fliehen und irgendwo neu anzufangen , dachte sie in einem Anflug von Panik. Aber sie hatte keine Papiere für ihn, sie hatte gar nichts – sie hatte ihren Sohn ja noch nicht einmal in den Armen gehalten.
Inka musste sich am hölzernen Treppengeländer festhalten, so sehr zitterten ihre Knie, als sie die Stufen in den ersten Stock erklomm. »Herta?«, rief sie. Alle fünf Zimmertüren waren geschlossen.
Als sich immer noch nichts rührte, zog Inka eine grausame Möglichkeit in Betracht: Herta konnte nicht mehr antworten. Jonas und die Haushälterin hinter einer dieser Türen tot vorzufinden, war eine Horrorvorstellung, die niemals Wirklichkeit werden durfte …
Inka riss die Türen
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