Hypnose
noch schnell die wichtigsten Verhaltensregeln …«
Der Pfleger überzeugte sich zunächst, dass kein Patient in seiner unmittelbaren Nähe über den Gang spazierte, ehe er seinen Schlüssel von der Sicherheitsbefestigung an seinem Hosenbund löste und die Tür aufschloss. Wie im Gefängnis , dachte Inka. Es war ein mulmiges Gefühl, die geschlossene Abteilung der Psychiatrie zu betreten. Das mit Metallstreben verstärkte Sicherheitsglas der Flügeltüren suggerierte eine trügerische Offenheit. Das Wissen, diese in sich geschlossene Welt auch als Gesunder nur mit Hilfe dieses Pflegers wieder verlassen zu können, verursachte Inka Beklemmungen.
Evelyn ging zielstrebig den Flur entlang, steuerte auf ein Zimmer zu, klopfte kurz an und trat ein. Inka blieb wie verabredet in der offenen Tür zum Krankenzimmer stehen. Sie sah einen in sich zusammengesunkenen Mann auf dem Bettrand sitzen, mit vom Kopf abstehenden silbergrauen Strähnen, so als hätte er sich die Haare gerauft. Brunner schaute auf, als seine Tochter eintrat.
»Evelyn, mein Mädchen!« Unter sichtlich großer Mühe verzog er seine medikamentenstarre Miene zu einem Lächeln. »Endlich bist du da. Das ist gut.« Er stand vom Bett auf. Es schien ihm peinlich, am helllichten Tag dort gesessen zu haben. Doktor Brunner wirkte mager, aber keineswegs kraftlos, sondern zäh. Im Kontrast zu seiner wilden Frisur stand seine ordentliche Kleidung mit dunkelblauer Stoffhose und fein gestreiftem Hemd, so als wollte er zur Arbeit gehen. Erst auf den zweiten Blick sah Inka die Fettflecken auf Hemd und Hose und bemerkte trotz des Abstands den strengen Körpergeruch, der von ihm ausging.
Die Wände seines Zimmers waren über und über voll mit gelben Zetteln. Überall wo eine glatte Fläche war, hatte er seine Notizen hingeklebt – auf die blanken Bilddrucke ohne Glasrahmen, auf den Schrank und Tisch und am Metallrahmen seines Bettes hingen Sätze, manchmal auch nur vereinzelte Worte. Es waren mit kräftigem Druck geschriebene kleine Buchstaben, die so gar nicht dem Klischee einer Ärztehandschrift entsprachen. Telefonnummer?, stand da. Ausweis!, Essen?, Grüne Damen, Bücherei?, Zeitschrift, Dokumentenordner!, konnte Inka lesen und einige Namen, die ihr aber nichts sagten.
»Wer ist diese Frau?«, fragte er und sein skeptischer Blick traf auf Inka, die noch immer abwartend lächelnd im Türrahmen stand, ganz so wie Evelyn es ihr empfohlen hatte.
»Das ist Inka, Vater. Eine Freundin von Annabel. Erinnerst du dich an sie?«
»Inka?« Seine buschigen, mit weißen Härchen gespickten Augenbrauen zogen sich zusammen und die krausen Falten über seiner Nasenwurzel vertieften sich. »Natürlich, erinnere ich mich! Die kleine Inka. Zuletzt warst du am 11. August 1995 bei unserem Gartenfest, das ich zu Annabels bestandenem Abitur ausgerichtet habe.«
Inka nickte überrascht. Mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit hatte er ihr das genaue Datum genannt. Sie selbst hatte gar nicht das Gefühl, dass es schon über fünfzehn Jahre her war, dass sie Brunner das letzte Mal gesehen hatte. Mit seinem phänomenalen Datumsgedächtnis hatte er sie schon als Kinder beeindruckt. Unabhängig davon, ob es sich um ein weltgeschichtliches Ereignis oder einen familienbiographischen Zusammenhang handelte, er kannte alle Daten, ohne sie je mit besonderem Aufwand auswendig gelernt zu haben. Er wusste es ganz einfach. Und seine Krankheit malträtierte offenkundig nur das Kurzzeitgedächtnis, deshalb die vielen Hilfszettel.
»Wie geht es Annabel?«, fragte er. »Kommt sie morgen wieder?«
»Annabel …« Evelyn schaute Hilfe suchend zu Inka und antwortete dann: »Weißt du, Annabel ist krank. Aber ich komme dich natürlich auch morgen besuchen.«
Offensichtlich hatte sich Evelyn entschieden, ihrem Vater etwas vorzuspielen.
»Krank?« Er wurde aufmerksam. »Was hat sie denn?«
»Eine Magenverstimmung«, sagte Evelyn schnell. »Sie hat sich mehrfach übergeben.«
»Große Güte! Jemand versucht, sie zu vergiften«, rief Brunner entschieden. »Du musst auf deine Schwester aufpassen, hörst du? Annabel darf nichts mehr essen, was sie nicht selbst gekocht hat. Sie darf niemandem vertrauen, auch diesem Jannis nicht. Das musst du ihr sagen!«
»Ja, Vater«, sagte Evelyn, und man sah, wie viel Beherrschung es sie kostete, seinem Wahn zu folgen, so wie es die Ärzte ihr empfohlen hatten. »Wir passen gut auf uns auf.«
»Bist du dir sicher?«
»Sicher, Vater.«
»Du musst alles
Weitere Kostenlose Bücher