Hypnose
Gefühl, unter seinen Augen wieder zum Kind zu werden. Es fiel ihr schwer, sich herauszureden, denn länger bleiben wollte sie nun wirklich nicht mehr. »Ich arbeite noch nicht wieder, obwohl es mir sicher auch guttun würde, auf andere Gedanken zu kommen. Ich hoffe, dass sich durch die Hypnose-Therapie bei Ihrem Schwiegersohn bald etwas an meinem Zustand ändern wird. Heute allerdings habe ich noch im Haushalt zu tun, das meinte Evelyn gerade.«
Er nickte, und Inka war erleichtert, dass er ihre Ausrede akzeptierte. »Meine Margitta, Gott hab sie selig, ist damals an dieser zu spät erkannten Schwangerschaftsvergiftung gestorben und mit ihr unser ungeborenes drittes Kind. Du kannst dankbar sein, dass wenigstens du überlebt hast … Bringt dir die Hypnotherapie bei meinem Schwager den gewünschten Erfolg?«
»Das kann ich noch nicht so genau sagen. Ich habe vieles rund um die Geburt verdrängt. Ich bin aber auf einem guten Weg, denke ich.« Inka wunderte sich, wie klar Doktor Brunner zwischendrin immer wieder zu sein schien. Aber Evelyn hatte ihr eingangs diese typische Symptomatik beschrieben.
Brunner nickte. »Evelyn, kannst du mir beim nächsten Besuch bitte solche Notizzettel und die Ordner mit den Steuerunterlagen der letzten fünf Jahre mitbringen? Und aus dem Klinikkeller die Patientenakten aus dem Jahr vor der Übergabe. Ich muss da etwas überprüfen. Fang bei A an und mach einen Karton voll. Und Walter muss das nicht erfahren. Du weißt ja, wo die Sachen lagern.« Er griff zu einem gelben Notizblock und begann seine Wünsche aufzuschreiben.
Evelyn fragte nicht weiter nach. Es war offenkundig, dass er wieder in seine Welt abglitt. »Bitte, Vater, das brauchst du nicht zu notieren. Ich kann es mir merken.« Sie kontrollierte noch schnell den Inhalt des Kleiderschranks und schaute im Bad nach, ob er auch sonst nichts benötigte.
Inka fand, dass dies doch ziemlich entmündigend auf Evelyns Vater wirken musste, der zwar krank war, seine Wünsche jedoch klar äußern konnte.
Evelyn ging auf ihren Vater zu, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und machte sich zum Gehen bereit.
Brunner stand auf, kam zur Tür und blieb dann vor Inka stehen. »Es freut mich, dich wiedergesehen zu haben. Du darfst mich gerne wieder besuchen.« Er gab ihr die Hand, und plötzlich spürte Inka etwas in ihrer Handinnenfläche. Etwas Spitziges mit Kanten. Ein zusammengefalteter Zettel. Als Brunner ihre Hand losließ, schloss sie instinktiv ihre Finger um das Stück Papier.
Evelyn hatte die Zettelübergabe nicht bemerkt, und das war wohl genau Brunners Absicht gewesen, dachte Inka, als sie hinter Evelyn Richtung Ausgang herging.
Draußen angelangt zog Evelyn hastig eine Schachtel Zigaretten aus der Handtasche und wühlte dann weiter darin nach ihrem Feuerzeug. Offensichtlich fand sie es nicht, denn sie sah sich um und ging einige Schritte auf einen Patienten zu, der im Jogginganzug auf der Parkbank saß und rauchte.
Inka drehte sich um und faltete den gelben Zettel auseinander. Und augenblicklich wünschte sie sich, diese Worte niemals gelesen zu haben:
Seien Sie vorsichtig, Inka. Jemand will Sie umbringen.
Inka ballte die Hand zur Faust und erstarrte. Es fühlte sich an, als würde jemand die Zeit anhalten.
»Inka, was ist mit dir?«
Evelyn stand neben ihr und schaute ihr besorgt ins Gesicht. Aber Inka konnte nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie drehte sich intuitiv um und sah im oberen Stockwerk Brunner hinter einem der Fenster stehen. Reglos schaute er zu ihnen hinunter. Sie glaubte trotz der Entfernung den Ausdruck seiner Augen erkennen zu können: Es war ein eindringlicher Blick, geschärft von einem tieferen Wissen, den sie wohl so schnell nicht mehr vergessen würde, das wurde ihr in diesem Moment klar.
Aber – der Mann war krank, wurde wegen Schizophrenie behandelt, und deshalb brauchte sie seine Warnungen nicht ernst zu nehmen.
»Inka, alles in Ordnung mit dir?«, fragte Evelyn noch einmal.
»Ja, ja«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich mache mir nur Sorgen um deinen Vater und hoffe, dass er bald wieder gesund wird.«
Kapitel 2
Wir waren geboren um zu leben,
für den einen Augenblick,
bei dem jeder von uns spürte,
wie wertvoll das Leben ist.
Unheilig, »Geboren um zu leben«
D ie Schwüle hielt bis in die Abendstunden hinein an. Bei Kerzenschein saß Inka allein auf der Terrasse vor ihrem Haus, die Haare noch feucht vom Duschen, und wartete bei einem Wodka Lemon
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