Hypnose
mich zur Strecke zu bringen? Da musst du dich schon ein bisschen mehr anstrengen! Wer ist schneller? Der Hase oder der Igel? Kennst du das alte Kinderspiel?« Diese Stimme. Sie gehörte eindeutig einer Frau. »Bist du etwa schon aus der Puste, kleines Häschen? Na komm schon! Lass uns fangen spielen!«
Und es war eine Frau, die sie kannte. Noch ehe Inka es ganz begreifen konnte, ließ der Druck in ihrem Rücken unvermittelt nach, und sie hörte davonlaufende Schritte.
Das Biest will, dass ich ihr nachjage. Na warte, deinen Vorsprung hole ich locker ein! Die Kämpferin in ihr erwachte, und sie rappelte sich auf. Kurzatmig lief sie auf wackeligen Beinen los. Für einen Sprint würde das allerdings nicht reichen. Wo Rebecca nur blieb?
An der nächsten Wegkreuzung schaute sie in alle drei Gänge. Dort! Dort vorne lief sie. Die Gestalt trug schwarze Kleidung, ihr Kopf war von einer Kapuze verdeckt. Trotz der Schmerzen im Brustkorb setzte sich Inka wieder in Bewegung. Rennen konnte sie nicht, aber sie ging, so schnell sie konnte. Bei jedem Schritt spürte sie ein Stechen nahe der Herzgegend.
Mach nicht schlapp , Inka, sagte sie sich. Durchhalten! Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Sie kam der Frau näher, aber noch nicht nahe genug. Die Aufzugtür quietschte, und es klang wie Hohn in ihren Ohren. Schneller, schnelle r! Atemlos erreichte Inka den Lastenaufzug. Nur ein paar Schritte Abstand noch. Zu spät. Inka jaulte aus Frustration regelrecht auf und schlug mit der Faust gegen das Türmetall.
Doch im letzten Moment hatte sie einen Blick auf die Gestalt erhascht und ein Detail bemerkt. Ein winziges Detail, das ihr alles verriet.
Rebecca kam angelaufen und sah ihr mit Bestürzung entgegen. »Was ist passiert, um Himmels willen? Was war das für ein Lärm? Nein – sag nicht, dass du angegriffen wurdest!«
»Verflucht!«, rief Inka und rüttelte an der Aufzugtür. »Die kriegen wir nicht mehr. Wegen der Kapuze war nicht viel zu erkennen. Aber es war eine Frau, da bin ich mir sicher! Und weißt du was, die Gestalt und die Stimme haben mich an jemanden erinnert!«
»An wen? Sag schon, an wen?«
Inka holte tief Luft. »Ich weiß, du hältst mich jetzt für verrückt, weil es eigentlich gar nicht sein kann. Aber ich habe an ihrem Handgelenk ein Tattoo mit Blumenranken gesehen.« Stumm wartete sie auf Rebeccas Reaktion.
»Du meinst Annabe l ? Das kann nicht sein! Annabel sitzt im Gefängnis!«
Kapitel 3
Es fällt mir schwer, ohne dich zu leben,
jeden Tag zu jeder Zeit einfach alles zu geben.
Ich denk’ so oft zurück an das was war,
an jenem so geliebten vergangenen Tag.
Unheilig, »Geboren um zu leben«
Z wei Tage waren seit dem brutalen Angriff in der Bibliothek vergangen, zwei unerträgliche Tage und schlaflose Nächte voller Angst für Inka, mit Schweißausbrüchen beim geringsten Geräusch und der quälenden Frage, wer im unterirdischen Magazin auf sie gewartet hatte. Inka konnte an nichts anderes mehr denken. Glücklicherweise hatten sich die Schmerzen in der Brustgegend verflüchtigt.
Natürlich war es unmöglich, dass es Annabel gewesen war, denn die saß seit Samstag verwahrt hinter dicken Mauern. Andernteils war es höchst unwahrscheinlich, dass eine andere Person ein so ähnliches Tattoo an exakt dieser Stelle am rechten Handgelenk trug. Wieder eine Halluzination? Naheliegend. Das Problem jedoch: Rebecca hatte ihr auf dem Nachhauseweg ausdrücklich bestätigt, dass jemand da gewesen war …
Darüber dachte Inka nach, als sie im Wartezimmer der Hypnose-Klinik saß. Sie erhoffte sich durch die Wahrnehmung des heutigen Termins wieder etwas mehr innere Ruhe zu finden. Oder auch Klarheit. Womöglich würde sie unter Hypnose etwas Hilfreiches sehen können, was ihr Unterbewusstsein durch den Schock nach dem Angriff verborgen hielt. Es waren noch zehn Minuten bis zum Beginn der Sitzung, zehn Minuten, die sich ewig hinzogen. Jedoch konnte sie sich sicher sein, dass Doktor Brinkhus sie auf die Sekunde genau hereinbitten würde. Es war immer derselbe Ablauf: Zwanzig Minuten vor der vollen Stunde entließ er bei ambulanter Behandlung den vorherigen Patienten, der zumeist neunzig Minuten im Therapieraum verbracht hatte, und begleitete ihn in einen Erholungsraum, in dem es Getränke und Zeitschriften gab und man die zwanzig bis dreißig Minuten Zeitpuffer verstreichen lassen konnte, bis man nach der Hypnose wieder als fahrtauglich galt. In dieser Zeit sprach Doktor Brinkhus ein kurzes Verlaufsprotokoll in sein
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