Hypnose
abführte.
Im Hinausgehen sah Inka, wie Annabel lächelte. Und da war sie noch mehr verblüfft.
✴
Inka schaute zurück auf die Gefängnismauern. Hell vor ihnen aufragend, wirkte die Stätte kaum furchterregend auf Außenstehende. Man könnte fast meinen, bei dem ehemaligen Kloster handle es sich nach wie vor um ein gern besuchtes Ausflugsziel, wären da bei näherem Hinsehen nicht die vergitterten Fenster und das große metallene Anstaltstor gewesen, das sich nun langsam hinter ihnen schloss.
»Wie kann Annabel glauben, dass Jannis noch lebt?«, fragte Inka. »Und hast du dieses merkwürdige Lächeln von ihr gesehen?«
»Es sieht so aus, als wäre sie auch krank – aber es heißt ja, dass derartige Symptome gerne in der Familie liegen und bei großen seelischen Belastungen durchbrechen. Meine arme Schwester …« Evelyn suchte in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch, ihr flossen die Tränen über die Wangen.
Inka streichelte ihr über die Schulter. »Nicht nur ich brauche Hilfe, auch du, Evelyn. Und zwar professionelle Hilfe. Wie wäre es, wenn du mit deinem Mann darüber redest?«
Evelyn schüttelte den Kopf und nahm ihre Brille ab, um mit einem Taschentuch ihre Augenwinkel anzutupfen. Der Wind frischte auf und rauschte durch die Ahornbäume in der Straße. Schwere Gewitterwolken ballten sich um die schwache Nachmittagssonne und drohten diese zu verdecken.
Sie gingen über den begrünten Vorplatz in Richtung Parkplatz. Und mit jedem Schritt, den sie sich vom Gefängnis entfernten, schüttelte Inka entschiedener den Kopf. »Oder es stimmt, was deine Schwester sagt. Dann käme noch zu dem Ganzen, dass Jannis eine Geliebte hatte. Nur wen? Wäre es möglich, dass er seinen eigenen Tod perfekt inszeniert hat? Aber das wäre ja ein ganz schöner Hammer, und ich müsste mich schwer in ihm getäuscht haben … Es muss doch ein psychologisches Gutachten von Annabel geben. Ich werde Peter danach fragen.«
Oder Andi , setzte sie im Stillen hinzu.
Denn der stand prompt an einen Laternenpfosten gelehnt in der Nähe ihrer blauweißen NSU Quickly und schien auf sie zu warten. Insgeheim hatte Inka gehofft, sie würden sich nicht mehr treffen, aber er war sicher auf eine Erklärung aus. Andererseits war sie auch froh, ein paar Worte mit ihm über das reden zu können, was gerade im Besuchszimmer des Gefängnisses vorgefallen war. Doch zuvor wollte sie sich von Evelyn verabschieden.
Evelyn presste die Lippen aufeinander, und ihre Mundwinkel zuckten. Sie schloss die Augen, Tränen quollen hervor. »Lieb von dir, Inka. Ich danke dir. Aber häng dich da nicht zu weit rein, du hast im letzten halben Jahr viel mitgemacht und bist bestimmt noch nicht komplett belastbar. Und meine Schwester steht dir sehr nahe – immerhin ist sie deine beste Freundin.«
»Eben darum stehe ich auch dir bei.«
»Ach nein, du tust zu viel für mich«, beharrte Evelyn.
Plötzlich stand Inka ein Bild vor Augen, und die Sequenzen begannen sich zu bewegen. Sie lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, Evelyn drückte mit ihrem Unterarm und dem ganzen Gewicht auf ihren schwangeren Bauch, um das Baby nach unten Richtung Geburtskanal zu schieben. Schmerzen, diese wahnsinnigen Schmerzen! Evelyn feuerte sie an, noch einmal alles zu geben. Dann sah sie ihren traurigen Blick, und der Film riss. – Wenn sie mir mein totes Baby in den Arm gelegt hätten, dann hätte ich mich verabschieden können und wäre nicht in ein so tiefes Loch gefallen …
»Evelyn, ich muss dich etwas fragen: Warum hast du mir damals mein Baby nicht gegeben?«
Evelyn putzte sich die Nase und schaute mit verlorenem Blick in die Ferne. »Ich war mit der Situation völlig überfordert, Inka. Weißt du, in meiner beruflichen Laufbahn habe ich schon Hunderte von kleinen und größeren Komplikatio nen erlebt, und ich wusste, ganz gleich, wie perfekt ich ar beite, eines Tages würde ich den Tod einer Gebärenden oder eines Neugeborenen erleben müssen. Aber auf das, was da bei dir passiert ist, war ich nur theoretisch vorbereitet.«
»Ich wollte mich von Jonas verabschieden …«
»Dazu warst du doch nicht mehr in der Lage. Du hast nur herumgeschrien und warst völlig weggetreten. Für nichts und niemanden mehr zugänglich! Wir mussten dich in die Klinik bringen.«
»In die Klinik? In welche Klinik?«
»Dort, wo mein Vater jetzt ist. Hast du keine Erinnerung mehr daran, dass du in der Psychiatrie warst?«
» WAS ?« Das hieß, ihre Erinnerung hatte eindeutig Lücken. Das durfte doch
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