Iacobus
souverän herrschte (der für andere der selige Bruder des Erlösers und für wenige Eingeweihte der selige Ketzer Priscillianus war), den man ohne Unterschied Santiago, Jakobo, Jacques, Jakob oder Iacobus nannte.
Im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung begründete Priscillianus, Schüler des ägyptischen Anachoreten Markus von Memphis und episcopus de Gallaecia , eine neue christliche Lehre, welche die Römische Kirche sofort als ketzerisch verurteilte. In kurzer Zeit zählten Tausende zu seinen Anhängern (unter ihnen auch zahlreiche Priester und Bischöfe), und seine wunderbare Lehre, die auf Gleichheit, Freiheit und Respekt sowie der Bewahrung der alten Kenntnisse und Riten gründete, verbreitete sich auf der ganzen spanischen Halbinsel und sogar über deren Grenzen hinaus. Der naive Priscillianus, der vertrauensvoll nach Rom eilte, um Papst Damasus um Unterstützung nachzusuchen, wurde jedoch gefangengenommen, gefoltert, von einem kirchlichen Tribunal in Trier abgeurteilt und schließlich erbarmungslos enthauptet. Seine Anhängerschaft jedoch, weit davon entfernt, sich von den Drohungen der Heiligen Römischen Kirche einschüchtern zu lassen, barg Priscillianus' enthaupteten Leichnam, brachte ihn nach Spanien zurück, und seine abweichende Lehre verbreitete sich weiter wie ein Lauffeuer. Schon bald wurde das Grab des ketzerischen Märtyrers, der ein guter Mann gewesen war, zum Ziel großer Pilgerströme, und da weder die Jahrhunderte noch die gewaltigen Anstrengungen der Kirche diesem Brauch ein Ende setzen konnten, tat der lange kirchliche Arm erneut das, was er schon zuvor so wundervoll zu tun verstanden hatte: Auf die gleiche Weise, wie die Kirche nicht existierende Heilige erfand, münzte sie die Feste zu Ehren der alten Götter der Menschheit in christliche Feierlichkeiten um oder beschönigte das Leben von – fast immer heidnischen oder initiierten – Volkshelden, um sie dem römischen Kanon einzuverleiben. Sie machte sich das zeitweilige Vergessen, in welches Priscillianus' Grab durch den Tod und den Schrecken, welches für die Halbinsel die arabische Invasion im achten Jahrhundert bedeutete, geraten war, zunutze und verwandelte es in das Grab des Apostels Jakobus des Älteren, Bruder Johannes des Evangelisten und wie dieser Sohn des Fischers Zebedäus und seiner Frau Maria Salome. Dann stattete man den Heiligen noch mit einer herrlichen Legende voller Wunder aus, welche das Unmögliche rechtfertigten, denn weder war Jakobus der Ältere jemals nach Spanien gekommen, wie die Evangelien und die Apostelgeschichte bewiesen, noch war sein Leichnam, kurioserweise ebenfalls enthauptet, von Jerusalem in einem steinernen, vom Wind getriebenen Boot nach Spanien gelangt.
Drei Tage nach unserer Abreise aus Portomarin, im fahlen Licht der Sonne, die kaum noch unsere Knochen wärmte, erreichten wir durch die Porta Francígena das ehrwürdige und berühmte Santiago de Compostela, wo, wie man sagt, alle Wunder möglich sind.
»Endlich!« rief Jonas immer wieder. Im Hintergrund war das fröhliche Lachen meiner Zauberin zu hören. Die beiden Hospitaliterbrüder an unserer Seite ritten mit gleichmütiger Miene weiter.
Es herrschte ein emsiges Treiben. Menschen aller Hautfarben und Sprachen und Tiere jeglicher Art verstopften die engen, schlammigen und stinkenden Gassen der Stadt. Für denjenigen, der wie ich sowohl im Orient als auch im Okzident die großen Städte der Welt bereist hatte, stellte Santiago de Compostela, eine der drei Axi Mundi, die größte Enttäuschung dar, die man sich vorstellen konnte. Was den Dreck und Gestank betraf, so hinterließ nicht einmal die beeindruckende, von reichen Palästen und Adelshäusern gesäumte Rúa de Casas Reais einen besseren Eindruck als die volkstümliche Via Francígena, die durchweg von einer kreischenden Menge von Wirten, Händlern, Bettlern, Dirnen, Wucherern und Verkäufern von Amuletten und Reliquien wimmelte. Als ich fast schon verzweifeln wollte, daß an jenem abscheulichen Ort nichts von Würde zu finden war, weswegen meine riskanten Pläne bereits im Morast meines Zauderns zu ersticken drohten, gelangte unsere Kutsche auf die Straße, die zur überwältigenden Basilika des Apostels führte, vor der sich Hunderte von Pilgern wie eine groteske, übelriechende, in schmutzige Lumpen gehüllte Masse Mensch versammelt hatte, um einander schubsend und stoßend den Pórtico de la Gloria zu durchschreiten, den so lange herbeigesehnten Boden zu küssen oder sich
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