Iacobus
sie ließ Salomo eigens jenen Tempel errichten.« Ich verstummte einen Augenblick und schöpfte Luft. »Das ganze Gebäude war von gewaltigem Ausmaß und ebensolcher Schönheit: Die Cherubim über der Lade waren natürlich aus purem Gold und glichen Löwen mit Flügeln und menschlichen Häuptern, und die beiden riesigen Säulen vor dem Tempel trugen zwei brennende Öllampen, die ihn Tag und Nacht beleuchteten.«
Der Junge verrenkte sich fast den Hals in seinem Eifer, mich nicht aus den Augen zu lassen, während ich ihm jene Geschichte erzählte. Er war vollkommen fasziniert.
»Diese Materialien waren indessen nicht das Wertvollste am Tempel«, fuhr ich fort. »Wahrlich nicht! Ganz besondere Menschen spielten nämlich bei dessen Bau eine Rolle. Angezogen von der gerühmten Weisheit Salomos und seiner tiefen Spiritualität, unternahm Makeda, die Königin von Saba, eine lange Reise nach Norden, um ihn kennenzulernen und ihn ›mit Rätselfragen zu prüfen‹, wie die Bibel berichtet. Lange Zeit blieb sie bei ihm und vermittelte ihm aus Urzeiten die heilige Erkenntnis, damit er sie beim Bau des Tempels verwende.«
»Welcher Art war diese Erkenntnis?« fragte Jonas neugierig.
»Eine Erkenntnis, zu der auch du, mein Junge, eines Tages Zugang haben wirst, wenn du dich ihrer würdig erweist«, schwindelte ich ihm vor, denn seine Initiation hatte offensichtlich schon begonnen. »Doch sei nun still und hör zu. Salomos Tempel entsprach gewissen Modellen und Maßen, die auf geheime Traditionen der Initiation zurückzuführen waren.«
»Welche geheimen Traditionen der Initiation?«
Ich stellte mich taub und fuhr fort: »Zwei Arkadengänge umschlossen das Gotteshaus, welches das Sancta Sanctorum barg, das Allerheiligste, wo man die Bundeslade verwahrte und das nur der Hohepriester einmal im Jahr betreten durfte; ansonsten war es für jedermann unzugänglich. Vier Jahrhunderte später wurde die heilige Stadt Jerusalem von den Truppen des Königs Nebukadnezar II. zerstört und mit ihr auch der prächtige Tempel Salomos.«
Ich ließ meine Augen über die bröckelnden Mauern der Kapelle von Eunate schweifen. Ich hatte Durst bekommen, weshalb ich nun einen kräftigen Schluck aus meiner Kalebasse nahm, was Jonas mir gleichtat.
»Dort, wo er einst gestanden hatte, erhebt sich heute die Qubbat-al-Sakkra-Moschee, der Felsendom, der kurioserweise – da es sich nicht um eine Charakteristik islamischer Architektur handelt – ebenfalls zwei Umgänge zählt. Außerdem ist er oktogonal, und das ist noch unerklärlicher. Genau daneben steht die kleine Moschee Al-Aqsa, die die Tempelherren als Residenz benutzten, wie du ja schon weißt. Sie verwandelten Al-Aqsa in ein Kloster und Qubbat-al-Sakkra in eine Kirche … in ihre Kirche. Zahlreiche Zitadellen und Festungen der Tempelherren im Heiligen Land und in Europa zeigen diese salomonische Bauweise der achteckigen Rotunde mit ihren mit Arkaden versehenen Wandelgängen, und bei unzähligen Kirchen und Kapellen, wie dieser hier in Eunate, hat man die seltsame achteckige Grundform von Qubbat-al-Sakkra, dem Felsendom, nachgeahmt.«
»So verdankt also diese kleine christliche Kapelle, die so verloren mitten in Navarra steht, ihre Form einer arabischen Moschee, die sich tausend Meilen von hier entfernt befindet?«
»So ist es.«
Er schien beeindruckt.
»Und was geschah mit dem Gold des Salomo-Tempels?«
»Als das israelitische Volk erfuhr, daß Nebukadnezar sich auf den Angriff vorbereitete, brachte man die Bundeslade in Sicherheit und versteckte das Gold an einem sicheren Ort, weshalb der babylonische König die erträumten Schätze nicht mit nach Hause nehmen konnte. Dafür verschleppte er, sozusagen als Entschädigung, die Juden als Sklaven. Aber das ist eine andere Geschichte. Jahrhunderte später, als die Israeliten nach Jerusalem zurückkehrten, wurde der Tempel wieder aufgebaut, wenn auch in bescheidenerem Ausmaß. Die Bundeslade, die Gesetzestafeln und Schätze blieben indessen verschollen. Und das bis zum heutigen Tag. Wie findest du das?«
»Seltsam«, meinte er argwöhnisch. »Aber genauso seltsam erscheint es mir, daß die Tempelherren sich den Namen von Salomos Tempel, ihrer ersten Wohnstatt, gaben. Ist das nicht etwas absurd?«
»Die Templer nannten sich selbst nicht so, in Wirklichkeit hießen sie Pauperes commilitones Christi, ›Arme Soldaten Christi‹, die ganze Welt kannte sie allerdings unter der Bezeichnung Tempelherren oder Templer. Trotzdem hast du guten
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