Iacobus
erreichen. Eine zwar schreckliche, aber keineswegs aussichtslose Aufgabe.
»Was bedeuten all diese Bilder?«
»Welche Bilder?«
»Die Köpfe dort zum Beispiel, die sich aufeinander stützen.«
»Das ist die Übertragung des Wissens, von dem ich dir vorhin erzählte. Die erste Stufe des Initiationsritus.«
»Und jene Chimären und Sirenen mit den Drachenschwänzen?«
»Der Schmerz und die Angst des Menschen angesichts der Gefahr und dem Unbekannten.«
»Und warum haben die Ungeheuer eine Blume auf dem Bauch?«
»Weil der Verlust der Angst den Menschen befreit und ihn dazu befähigt, die Wahrheit zu erlangen.«
»Warum trägt jene Figur dort mit der Kapuze ein Kind auf ihren Armen?«
»Weil das Kind nach seinem Tod wiedergeboren wurde.«
»Und die nackte Frau dort, die sich um eine Schlange windet?«
»Das, Jonas, ist die Große Mutter, die Magna Mater, die Erde. Erinnere dich, ich habe dir schon einmal von ihr erzählt.«
»Und warum bildet man eine heidnische Göttin in einem christlichen Gotteshaus ab?«
»Sämtliche Gotteshäuser der Welt sind einer einzigen Gottheit geweiht, wie auch immer man sie nennen mag.«
»Und was macht eine Göttin mit einer Schlange?«
»Die Schlange ist das Symbol des heiligen Wissens. Auch davon habe ich dir bereits erzählt.«
»Nur etwas verstehe ich nicht: Wie kann ein Kind geboren werden, nachdem es doch gestorben ist?«
»Das, mein lieber Jonas, erkläre ich dir ein andermal«, sagte ich und wischte mir mit dem Kuttenärmel den Schweiß von der Stirn. So eine Fragerei! »Jetzt möchte ich gern herausfinden, wohin man über jene Treppe dort gelangt.«
Auf der südlichen Seite der Kapelle sah man durch eine halbgeöffnete Tür eine Wendeltreppe. Noch waren wir hier niemandem begegnet, weshalb nichts dagegen sprach, hinaufzusteigen und zu erkunden, wohin sie führte. Ich sah mich nicht enttäuscht, als wir auf einen kleinen Turm kamen, von wo aus man eine wunderbare Landschaft betrachten konnte; zu unseren Füßen dehnten sich die weiten, stillen Felder um Eunate. In der Ferne war schon Puente la Reina zu erkennen.
»Hier muß sich der Turmwächter postiert haben, genau wie in Ponç de Riba«, meinte der Junge.
»Welcher Turmwächter, wenn hier niemand lebt?«
»Es wird doch jemand aufpassen müssen, falls die Mauren wieder einfallen!«
»Und wozu, glaubst du, dient dann jener Kirchturm dort in Puente la Reina, der sehr viel höher ist und weiter im Süden liegt?«
»Nun, sie werden wohl auf beiden Wache gehalten haben.«
»Möglich, das ist nicht ganz von der Hand zu weisen«, stimmte ich ihm zu. »Dieser Turm hier dient jedoch noch zu etwas anderem als nur zur Überwachung. Hast du die wunderbare Aussicht auf den Himmel bemerkt, die man von hier aus genießen kann? In einer schönen Sommernacht muß man das Firmament hier oben mit bloßen Händen berühren können. Zweifellos dient diese Plattform dem Studium der Sterne.«
»Und wer soll die Sterne beobachten, wenn hier niemand wohnt?«
»Sei dir gewiß, daß irgendjemand ab und zu hierherkommt, um den Himmel zu beobachten, nachts oder während der Sonnenwende oder der Tag- und Nachtgleiche. Und nicht nur dann; es gibt Zeiten im Jahr, in denen es lebenswichtig ist, die Konstellationen zu deuten. Ein so geeigneter Ort muß von Astrologen gut besucht sein.«
»Und die Stadt dort, Puente la Reina, ist sie unser nächstes Ziel?« fragte Jonas und wies mit dem Finger in die Ferne.
»So ist es. Dort werden wir heute essen, in irgendeinem Hospiz oder im Haus eines gutmütigen und barmherzigen Samariters.«
Quatuor vi sunt que ad Sanctum Jacobum tendentes, in unum al Pontem Regine, in horis Yjpanie, coadunantur …
»Vier Wege führen nach Santiago, die sich zu einem einzigen in Puente la Reina in Spanien vereinen …«, erklärte Aimeric Picaud im ›Codex Calixtinus‹. Unsere Reise war bis dahin eher einsam verlaufen – wir waren gerade einmal auf zwei oder drei Pilgergruppen und den ein oder anderen ungeselligen Büßer gestoßen –, doch nun wurden wir in Puente la Reina der großen Zahl Menschen gewahr, die zur Buße ihrer Sünden mühevoll den heiligen Weg beschritten. Ich selbst hatte über die Großherzigkeit gestaunt, mit der wir bis dahin von den Dorfbewohnern, Bauern und Mönchen entlang des Wegs behandelt worden waren, indessen war nichts vergleichbar mit der Fröhlichkeit und dem Überschwang, mit denen uns die Navarreser jener Gegend bereits in Obanos empfingen. Wie falsch erschienen mir
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