Iacobus
Kälte. Der Sommer neigte sich offenkundig langsam seinem Ende zu. Der Herbst stand bevor. Tagsüber, wenn die Sonne hoch stand, war es nach wie vor noch unerträglich heiß, doch wenn sie unterging, wurde es grimmig kalt. Ich hatte den Wetterumschwung schon an meinen alten Narben und vor allem an meinen schwieligen Füßen gespürt, die übermäßig anschwollen und mir das Vorankommen erschwerten. Glücklicherweise hatte ich mir während der Rast in einer Herberge eine Salbe aus dem Knochenmark einer Kuh und frischem Schmalz rühren können, die die Entzündung und die Schmerzen beträchtlich linderte.
An Eneriz vorbei führt der Pilgerweg links zur Kapelle von Eunate. Verloren in der Einsamkeit der Felder, leitete deren Glockenturm den Pilger durch eine weite, trostlose Ebene.
Beim Näherkommen merkte ich, daß die Ermita Santa Maria de Eunate für uns sehr viel mehr bedeuten konnte, als dies auf den ersten Blick schien: Vielleicht nahm hier das, was wir seit Wochen ungeduldig erwarteten, endlich seinen verheißungsvollen Anfang. Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich mußte mich sehr beherrschen, um nicht loszulaufen und Jonas einfach hinter mir zu lassen. Jedoch mußte ich auch zusehen, daß mir die Kontrolle über meine Emotionen nicht entglitt, wußte man doch nie, wer einen beobachtete.
»Was sagt dir jene Kirche dort, Jonas?«
»Sollte sie mir denn etwas sagen?« fragte er herablassend. Seit der vergangenen Nacht hatte sich der Geist irgendeines allmächtigen Herrschers seiner bemächtigt. Hin und wieder überkam es ihn.
»Ich möchte, daß du ihre Architektur genau studierst.«
»Also, ich sehe eine Kirche einfachsten Stils mit spärlichen Verzierungen.«
»Aber was für einen Grundriß hat sie?« bohrte ich nach.
Hochmütig heftete er seinen Blick darauf.
»Wahrscheinlich achteckig. Genau kann ich es nicht erkennen. Und sie ist von einem offenen Arkadengang umgeben. Ehrlich gesagt finde ich es merkwürdig, daß eine Kirche den Kreuzgang außen und nicht wie gewöhnlich innen hat.«
»Siehst du? Jetzt beginnst du wirklich zu beobachten und nicht nur zu schauen.«
Das Lob zeigte Wirkung. Karl der Große verschwand und ließ den Novizen wieder zum Vorschein kommen.
»Hat das, was ich sagte, denn irgendeinen Sinn?«
»Ja, es spricht dafür, daß du einer Templerkirche reinster Bauart gegenüberstehst, die sich aufgrund von Papst Clemens' Bulle vielleicht jetzt im Besitz meines Ordens befindet.«
»Woher wißt Ihr das?« fragte er neugierig. »Woher wißt Ihr, daß es sich um ein Gotteshaus der Templer handelt?«
Wir waren bei der Kapelle angelangt und gingen soeben um den Zentralbau herum.
»Wegen seiner achteckigen Form. Jedes Gebäude mit einem solchen Grundriß wurde von den Tempelherren errichtet. Weißt du noch, wie wir auf die geheime Bedeutung der Namen der arabischen Ärzte stießen, die Papst Clemens V. in Roquemaure untersucht hatten? Damals erzählte ich dir, daß Al-Aqsa der Name einer Moschee im Bezirk des Salomo-Tempels von Jerusalem war, welche die Templer als Mutterhaus benutzt hatten.«
»Ja, gewiß.«
»Nun, so laß mich dir eine Geschichte erzählen.«
Erschöpft von der Hitze nahmen wir unsere Pilgerhüte ab, setzten uns auf den Boden und lehnten den Rücken gegen eine Mauer. Nach so vielen Stunden Sonne dankten uns unsere Körper den kühlenden Schatten.
»Salomo war ein gebildeter und weiser König, der Israel etwa tausend Jahre vor Christi Geburt regierte«, begann ich. »Um dir vorstellen zu können, was für ein Mensch er war, solltest du wissen, daß das ›Hohelied‹ aus der Bibel von ihm stammt und auch die Bücher der Weisheit, die Sprüche und das Buch ›Prediger‹ ihm zugeschrieben werden. Reicht dir das? … Also, dieser weise und gerechte König wollte einen Tempel zu Ehren Jahwes errichten lassen. Wenn du ›Das erste Buch der Könige‹ gelesen hast, wirst du dich daran erinnern, daß sein Bau dort minutiös beschrieben steht. Die besten Materialien aus den Reichen des Orients verwendete man dafür: Zedernholz, Stein, Marmor, Kupfer, Eisen und Gold, riesige Mengen an Gold. Sämtliche Wände wurden damit überzogen, und auch die Kultgegenstände und den großen siebenarmigen Leuchter goß man aus massivem Gold. Nichts war schön genug, um die Bundeslade und die Gesetzestafeln aufzubewahren, die Moses eigenhändig auf dem Berg Sinai gemeißelt hatte. Denn das war es, was der Tempel bergen sollte, Jonas: die Bundeslade und die Gesetzestafeln. Für
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