Iacobus
seid nicht gerade sehr liebenswürdig, Bruder.«
»Und Ihr laßt es in diesem Gotteshaus an der nötigen Ehrfurcht mangeln. Deshalb verschwindet, Schurke! Raus hier! Hört Ihr nicht? Ich habe gesagt, hinaus!«
Ich verließ die Kirche im Laufschritt, nicht aus Furcht vor den leeren Drohungen des Laienbruders, der mich nicht einschüchtern konnte – ich nahm zwar eine demütige Haltung ein, doch nur, um vor jenem Spaßvogel glaubhafter zu wirken –, sondern weil ich mich irgendwo hinsetzen mußte, um über all das gründlich nachzudenken, was ich soeben gesehen hatte.
Wenig entfernt davon stieß ich auf das herrliche Portal der Santiago-Kirche. Wie ein Bettler ließ ich mich an einer der Säulen davor nieder. Ich weiß nicht, warum ich dort blieb, verstand ich doch so wenig von den Dingen des Weges, den ich beschritt. Alles war magisch und symbolisch, alles vielgestaltig und hintergründig, jedes Zeichen konnte tausend verschiedene Dinge bedeuten, und jedes einzelne davon setzte sich wiederum geheimnisvoll mit Orten, Kenntnissen oder endlos lang zurückliegenden Ereignissen in Raum und Zeit in Beziehung, was nur dazu diente, das Geheimnis noch zu vertiefen.
Hinter dem schwarzen Leinen der Apsis hatte ich das außergewöhnlichste Kruzifix entdeckt, das ich in meinem Leben je gesehen hatte: Auf der Kirchenmauer war der Gekreuzigte in menschlicher Größe abgebildet, wie er sterbend an einem Baum in Form eines griechischen Ypsilon hing, den Körper zur linken Seite geneigt, den Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Die Dramatik der Szenerie war so streng und erhaben und der Naturalismus so ausgeprägt, daß ich jedesmal, wenn ich daran dachte, ein Schaudern nicht vermeiden konnte. Jedoch war noch mehr zu sehen: Über Christi Haupt beziehungsweise über der Baumspitze betrachtete das spähende Auge eines Königsadlers einen entfernten Sonnenuntergang. Dies alles mußte ich deuten. Wenn im Leben nichts zufällig geschieht, so war jene Darstellung am allerwenigsten vom Zufall bestimmt. Aus irgendeinem Grund war sie dort an die Wand gemalt und dann abgedeckt worden.
Ich begann mögliche Auslegungen gegeneinander abzuwägen. Was hatte ich also? Es gab einen deutschen Meister namens Johann Oliver, der sein Werk nicht vollendet hatte; sein Gemälde sollte schon bald durch ein echtes, ähnliches Kruzifix ersetzt werden; und darüber hinaus war dieses außergewöhnliche Wandgemälde mit schwarzem Leinen verhängt, welches seine Betrachtung verhinderte. Nun die Symbole: Es gab eine Kreuzigungsszene ohne Kreuz – auf einem der Kapitelle des Kreuzgangs von Eunate hatte ich die gleiche Andeutung gefunden –, da der gabelförmige Baum mit seinem ungeschälten Stamm, aus dem auf der Höhe von Christi Unterleib die beiden oberen Triebe sprossen, kein Kreuz war, sondern ein Gänsefuß, Erkennungszeichen der geheimen Bruderschaften der initiierten Baumeister und Brückenbauer (wie Salomo beim Bau seines Tempels Ausführende der heiligen Prinzipien der transzendenten Architektur); ich hatte einen Königsadler, Symbol der Erleuchtung, der sowohl das Sonnenlicht als auch Johannes den Evangelisten repräsentieren konnte; und ich hatte schließlich einen wunderschönen Sonnenuntergang, Urbild des geheimnisumwitterten Todes, welches den Eingeweihten in einen Sohn der Erde und des Himmels verwandelte.
Und was weiter? Welche Schlußfolgerung konnte man daraus ziehen? Vielleicht war die Verbindung zwischen all diesen Faktoren so absurd, daß ich sie nicht sehen konnte, oder vielleicht war sie auch so unbedeutend, daß ich sie gerade deswegen nicht wahrnehmen konnte. Auch war es möglich, sagte ich mir verzweifelt, daß das Bindeglied so weit hergeholt war, daß niemand, der nicht im Besitz des genauen Schlüssels für jenes Wirrwarr war, die einzelnen Teile richtig zusammenfügen konnte. Und natürlich konnte ich auch nicht das Kapitell von Eunate mit seinem bedeutsamen Irrtum außer acht lassen, das zudem eine glaubwürdige Übereinstimmung mit den Wandmalereien zeigte. Meine Blindheit brachte mich zur Verzweiflung; ich tat nichts anderes als mögliche Kombinationen von Symbolen, Namen und Ähnlichkeiten zu suchen. Vielleicht fehlte mir etwas, vielleicht täuschte ich mich in meiner Vorgehensweise … Die traurige Wahrheit war, daß ich nichts fand, was einigermaßen logisch klang.
Nach all den Jahren, die ich dem Studium der Kabbala gewidmet hatte, war ich zu der grundlegenden Einsicht gelangt, daß ein guter Kabbalist sich
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